Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
menschlichen Faktor in der Wirtschaft nennen. In einem wissenschaftlichen Vortrag hätte das banal geklungen, in einer politischen Rede aber hatte dieser Gedanke einen anderen Stellenwert. Noch dominierte ja die alte Tradition, nach der nicht der Mensch selbst, sondern nur Tonnen und Kilometer der Maßstab für Erfolg waren.
Mit Lenins Worten waren im Grunde konkrete zeitgenössische Adressaten gemeint. Das galt nicht nur für seine Warnung gegen Übereile bei der Entscheidung ökonomischer und sozialer Aufgaben, für seine Betonung der wirtschaftlichen Rechnungsführung und der Rolle materieller und moralischer Anreize für die Arbeit, für sein Drängen auf eine vollständigere Berücksichtigung der objektiven Wirtschaftsgesetze und den Gebrauch der Ware-Geld-Beziehungen, sondern auch für seine Interpretation des demokratischen Zentralismus als Prinzip, das ein Maximum an Initiative, Mut und Selbständigkeit mit sich bringt.
So wurden Lenins Worte natürlich vor allem bei denen aufgenommen, die sich für den Sinn des aktuellen Geschehens interessierten. Die meisten dagegen beschäftigte die Tatsache, dass gerade ich den Auftrag für das Referat bekommen hatte. Sie erinnerten sich, dass Andropow ein Jahr zuvor nach einer ähnlichen Rede der zweite Mann in Partei und Staat geworden war und er jetzt mich mit dem Referat beauftragt hatte. Andropow wollte mich unterstützen und tat das auf unterschiedliche Weise. Dieses Mal hatte er fast denselben Schachzug gewählt wie Breschnew ihm gegenüber: Er hatte mir die Möglichkeit gegeben, mich darzustellen und auszusprechen. Einerseits wollte er mich also unterstützen, andererseits sollte ich die Gelegenheit haben, meine Gedanken und meine Interpretation zu diesem Thema zu äußern.
Reise nach Kanada
Meine Reise nach Kanada sollte Mitte Mai 1983 stattfinden. Im Oktober 1981 war der kanadische Minister für Landwirtschaft Whelan bei uns zu Besuch gewesen und hatte eine Einladung seiner Regierung überreicht. Wir hatten uns auf die Dauer von zehn Tagen geeinigt. Als der Zeitpunkt meiner Reise näher rückte, sprach sich Andropow entschieden dagegen aus: »Nach Kanada? Jetzt ist keine Zeit für Auslandsreisen. Es geht auch ohne Kanada!«
»Es muss sein«, suchte ich ihn zu überzeugen. »Erstens handelt es sich um eine Einladung der Regierung; zweitens muss ich mir unbedingt die Landwirtschaft Kanadas angucken. Nach Saatflächen und Klimabedingungen ist es uns näher als andere Länder. Und drittens muss ich mich mal wenigstens zehn Tage von unserem Durcheinander erholen. Danach komme ich gestärkt wieder.«
»Zehn Tage sind zu viel«, sperrte sich Andropow. »Höchstens sieben.«
Am 16 . Mai war ich schon in Kanada. Unser Botschafter Alexander Jakowlew hatte die Reise sehr gründlich vorbereitet. Und auch die kanadische Seite nahm den Besuch wegen der begrenzten Kontakte, die damals zwischen unseren Ländern bestanden, besonders wichtig. Ich spürte von ihrer Seite auch ein wenig Neugier gegenüber mir als jüngstem Politbüromitglied.
Die Reise war sehr ergiebig. Ich traf mit Premierminister Pierre Trudeau zusammen, der wie immer einen dunkelblauen Anzug trug, in dessen Brusttasche eine Rose steckte, Symbol seiner Zugehörigkeit zur liberalen Partei. Er verhielt sich anfangs etwas kühl, aber dann kamen wir so ins Gespräch, dass uns die vom Protokoll bemessene Zeit nicht ausreichte. Seitdem haben Trudeau und ich ein freundschaftliches Verhältnis. Die kanadischen Zeitungen verstiegen sich später sogar zu der Meldung, sie seien die wahren »Entdecker Gorbatschows«.
Am meisten interessierte mich bei meinem siebentägigen Aufenthalt in Kanada aber die Reise durchs Land. In der Umgebung von Ottawa besichtigten wir das staatliche Forschungszentrum für Viehzucht, sahen Gewächshäuser, Farmen, Betriebe für die Verarbeitung landwirtschaftlicher Rohstoffe und ein Werk für Großraumlaster in der Nähe von Windsor. Dann fuhren wir nach Toronto und in die Provinz Alberta, die größte Viehzucht- und Getreideregion Kanadas. Wir besuchten die großen Ranches bei Calgary, wo die Mastrinder das ganze Jahr draußen auf der Weide bleiben. Bei den Treffen mit den Farmern wollte ich vor allem herausfinden, was die treibende Kraft für die guten Ergebnisse war.
Wir besichtigten eine große Farm in Alberta. Über 2000 Hektar Nutzfläche. Eine Herde mit einem Milchertrag von 4700 Kilogramm pro Kuh; diverse landwirtschaftliche Maschinen; unter einer Überdachung Werkzeug für
Weitere Kostenlose Bücher