Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
wusste niemand. Der Generalsekretär musste entscheiden. Andropow schlug vor, die Vertreter beider Seiten anzuhören, bevor über den Kauf entschieden werde.
Wenn Andropow es mit solchen Dingen zu tun bekam, reagierte er manchmal sehr gereizt: »Du mit deinem Lebensmittelprogramm«, sagte er dann.
»Nicht meins, sondern unseres. Wir haben es schließlich zusammen durchgesetzt«, antwortete ich und litt nicht weniger als Andropow. »Die beschlossenen Maßnahmen greifen noch nicht, es ist noch zu früh!«
»Ich verstehe«, lenkte er ein. »Aber bis ihr die Betriebe modernisiert, genugend Düngemittel und Technik habt, vergeht so viel Zeit …«
Das Ausbleiben schneller Ergebnisse ließ Andropow Schritte unternehmen, die ich für mehr als fragwürdig hielt. So zum Beispiel die Formen, die der Kampf zur Erhöhung von Disziplin und Ordnung annahm, als man die Leute, die während der Arbeitszeit in der U-Bahn, in Geschäften, Friseurläden und Saunen angetroffen wurden, einfach festnahm. Bei der Durchführung dieser Kampagne stützte sich Andropow nicht auf gesellschaftliche Organisationen, sondern auf die Sicherheitsorgane und die Kräfte des Innenministeriums. Das war für ihn der kürzere Weg. Ich sagte ihm manchmal, ich verstehe nicht, wofür das gut sei.
»Warte mal ab, wenn du in mein Alter kommst, verstehst du schon«, war die Antwort.
Die Zeit ist vorbei, vieles ist vergessen, oder ich erinnere mich nur noch schwer daran, aber die Geschichte mit dem »Kampf für die Disziplin« ist vielen im Gedächtnis geblieben.
Im März 1983 rief mich Andropow an und sagte mir, er wolle mich dem Politbüro als Referenten für die feierliche Sitzung anlässlich des 113 . Geburtstags von Lenin vorschlagen. Im Laufe meines Lebens habe ich oft zu Lenins Werken gegriffen, sodass mir schien, die Vorbereitung des Referats werde nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Aber das Konzept des Referats zu Papier zu bringen, wollte mir nicht gelingen. So schaute ich mir Lenins Werke erneut an, besonders die nach der Oktoberrevolution. Die einen las ich noch einmal, die anderen blätterte ich nur durch. Die Ereignisse der nachrevolutionären Jahre fesselten mich so stark, dass ich manchmal ins Nachdenken geriet, wie ich selbst wohl die Probleme, die vor Lenin standen, gelöst hätte. Ich las mich richtig fest …
Doch hatte das durchaus einen Nutzen. Ich überdachte die letzten Arbeiten Lenins immer wieder, besonders seine Artikel und Reden, in denen er, die Zeitspanne der Sowjetmacht bewertend, offen erklärt, die Bolschewiki hätten »einen Fehler begangen« … Er war der Meinung, das öffentliche Bekenntnis eines Fehlers habe eine wichtige praktische Funktion, um die vorherigen Fehler durch eine neue Politik korrigieren zu können. Ohne eine Analyse der Fehler des alten Kurses könne keine neue Politik ausgearbeitet werden.
Wir spürten alle, dass wir am Anfang einer neuen Phase standen (intuitiv wussten wir das schon lange). Durch die Lektüre verstand ich, wie viel es Lenin ausmachte, als er erkennen musste, dass er nicht das erreicht hatte, wofür er all die vorangegangenen Jahre gelebt hatte. Ich wollte verstehen: Was beunruhigte ihn, wovor wollte er mit seinen letzten Arbeiten warnen? Warum wurden sie unter Verschluss gehalten? Offenbar hatten die Funktionäre Angst vor etwas. Also musste etwas darinstecken …
Zu vielen Ideen, die mir bei der Wiederlektüre von Lenin kamen, kehrte ich 1985 und später zurück. Doch das Referat von 1983 blieb im politischen und ideologischen Rahmen der damaligen Zeit. Eine Kritik des alten Kurses stand in ihm nicht zur Debatte. Trotzdem riefen einige Akzente des Referats eine lebhafte Reaktion in unseren und den Massenmedien des Auslands hervor.
Die Menschen, die die politische Sprache jener Zeit verstanden, fühlten sich angesprochen von Überlegungen zu einer Struktur der gesellschaftlichen Produktion, die nicht nur den Fortschritt der Schwerindustrie, sondern auch hochentwickelte Branchen zur unmittelbaren Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung vorsah. Die Frage nach einer Strukturpolitik verwies auf den unmäßig gewachsenen militärindustriellen Komplex, der die ganze Wirtschaft in Mitleidenschaft zog.
Ich schnitt in meinem Referat auch das Thema der Rolle des Menschen in der modernen Produktion an. Der Charakter der Arbeit stelle heutzutage völlig neue Anforderungen an das kulturelle und professionelle Niveau, das Können und die Disziplin des Arbeiters, an das, was wir den
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