Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
Entrüstung Sljunkow und Masljukow. Tschebrikow (der am Vortag um ein Haar »gestolpert« wäre) äußerte ruhige, missbilligende Worte.
General Jasow murmelte etwas Unbestimmtes über die Presse, die jedes Maß verloren habe, äußerte sich aber im Großen und Ganzen für den Generalsekretär. Für Ligatschow traten Solomenzew, Nikonow und Lukjanow ein. Unentschieden war der eigens aus dem Urlaub angereiste Sajkow. Rasumowskij sprach vernünftige Worte. Selbstverständlich wurde einstimmig der Beschluss gefasst: den Artikel verurteilen und tadeln. Die
Prawda
sollte eine entsprechende Bewertung des Artikels veröffentlichen.
Abschließend teilte Jakowlew Tschernjajew seine Einschätzung mit: »Das ist ein Wendepunkt in der Geschichte der Perestrojka.« (Ryschkow hatte sogar vorgeschlagen, Ligatschow die Zuständigkeit für die Ideologie zu entziehen!)
Viele Sekretäre der Gebietskomitees hatten den Artikel jedoch schon in ihren Lokalzeitungen abdrucken lassen; die einen aus falsch verstandener Disziplin, die anderen, weil sie mit dem Artikel einverstanden waren. Ein Teil hatte nicht glauben können, dass dieser Artikel eine Direktive sein sollte, und hatte den Abdruck verweigert.
Dies war ein außerordentlich gefährlicher Moment. Deshalb hielt ich es für notwendig, mir die Sekretäre der Kreis- und Gebietskomitees vorzunehmen. Der Tenor meiner drei Treffen im März und April mit den Parteiführern war folgender: Wer den Artikel nicht richtig verstanden hat, der gucke ihn sich noch einmal an und korrigiere sich; doch wer wie Nina Andrejewa denkt, der müsse gehen, denn dieser Artikel sei ein offener Appell, zum verbrecherischen und zutiefst amoralischen Stalinismus zurückzukehren. »Speziell für Sie«, so wandte ich mich an die Sekretäre, »möchte ich hinzufügen: Hunderttausende von Parteiaktivisten wurden erschossen, drei Millionen in Lager deportiert. Dabei ist die Kollektivierung noch nicht mitgerechnet, der weitere Millionen zum Opfer fielen. Nina Andrejewa ruft uns zu einem neuen Jahr 1937 auf. Ist es das, was ihr Mitglieder des Zentralkomitees wollt? Wir müssen an unser Land denken. Wollen wir den Sozialismus? Ja! Aber was für einen? Den Sozialismus von Stalin können wir nicht brauchen.«
Im Auftrag des Politbüros veröffentlichte die
Prawda
einen vernichtenden Artikel zum »Fall Nina Andrejewa«.
Die Geschichte mit dem Artikel hatte offengelegt, was ich auch früher schon geahnt hatte: Meine Genossen, mit denen ich aufrichtig, gemeinsam und einmütig die Perestrojka eingeleitet und die ersten Schritte zurückgelegt hatte, jeder von ihnen hatte seine ureigene Grenze. Schwierigkeiten und Gefahren hatten den anfänglichen Enthusiasmus abkühlen lassen, und viele hätten es lieber bei einer kosmetischen Reparatur des bestehenden Systems belassen.
Die Revolution in den Köpfen
Die Veröffentlichung des Artikels von Nina Andrejewa gehörte nicht einfach zu den vielen Angriffen im Meer der Perestrojka-Presse, sondern war eine von langer Hand vorbereitete politische Aktion. Mir wurde bald bekannt, dass sie von den Mitarbeitern Ligatschows vorbereitet und von ihm selbst gebilligt worden war. Ebendeshalb wurde der Artikel als richtungsweisend interpretiert, weil er »von ganz oben« kam.
Natürlich war ich beunruhigt, dass das hinter meinem Rücken geschehen war. Aber ich lehnte es kategorisch ab, wie mir geraten wurde, den genauen Ablauf der Aktion zu untersuchen und alle Beteiligten und Initiatoren, insbesondere den Chefredakteur Tschikin, zu bestrafen. Das Problem lag anderswo, nämlich im grundlegenden Verständnis der Parteilinie durch die Bevölkerung und in ihrer bewussten Umsetzung im eigenen Leben. Aus diesem Grund war es mir wichtiger, wie man so sagt, »unter vier Augen« die Meinung des ganzen Parteiapparats einzuholen, also eines jeden einzelnen ZK -Sekretärs der Republiken, Regions- und Bereichskomitees. Ich wollte von ihnen wissen, wie man ihrer Meinung nach die ganze Partei und Gesellschaft besser und effizienter in die Perestrojka einbeziehen könne.
Beschlüsse zu diesen Fragen konnten nur öffentlich auf einem Parteiforum gefasst werden. Dazu sollte die 19 . Parteikonferenz dienen, die für den 28 . Juni 1988 einberufen worden war. Den Sinn dieser Konferenz sah ich darin, eine grundlegende Reform des politischen Systems einzuleiten, das in vieler Hinsicht immer noch tief verwurzelte Eigenschaften in sich trug, die bereits in den Jahrzehnten der stalinistischen administrativen
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