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Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Titel: Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Gorbatschow
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Kommandowirtschaft angelegt worden waren. Denn dieses System war, davon bin ich überzeugt, der Hauptgrund für die Beschränktheit des politischen Bewusstseins der Parteikader von der obersten bis zur untersten Ebene sowie des gesellschaftlichen Bewusstseins breitester Bevölkerungsschichten. Das war die wichtigste und schwierigste Aufgabe der Perestrojka. Das Gespräch mit den Parteisekretären hatte mir Hoffnung gemacht. Die meisten verstanden durchaus die Notwendigkeit, das politische, wirtschaftliche und soziale System zu erneuern und zu verändern. Das erforderten die massiven Probleme hinsichtlich der Grundbedürfnisse der Menschen im ganzen Land. [38]
    In den drei Jahren, die seit dem März 1985 vergangen waren, hatten Perestrojka, Glasnost und Demokratisierung das gesellschaftliche Bewusstsein und den Horizont der Menschen, die sich um das Land sorgten und die Unmöglichkeit einer normalen Entwicklung des Menschen und Bürgers beklagten, immer stärker erweitert. Es hatte eine Revolution in den Köpfen begonnen, die weder totzuschweigen noch zu verbieten war. Das belegten die tägliche Presse, die neuen Bücher, Theateraufführungen, Auftritte von Künstlern und die Entstehung einer Reihe von inoffiziellen Organisationen der Jugend, Bürgerrechtler und Umweltschützer.
    Nicht alle hatten konstruktive Ziele, obwohl anfangs die Unterstützung der Perestrojka überwog. Aber es bildeten sich auch zweifelhafte, destruktive, radikale Gruppen; auch reaktionäre Organisationen wie die berüchtigte faschistische Gruppe »Pamjat« kamen auf. Überdies spitzte sich das Problem der Rechtmäßigkeit und Tätigkeit neuer Vereinigungen zu, insbesondere auf der Ebene der nationalen Beziehungen. Das unterstrich einmal mehr, wie wichtig es war, die demokratische Rechtsordnung zu stärken und einen Rechtsstaat zu schaffen. Die Gesellschaft war aus ihrem Winterschlaf und ihrer Apathie erwacht. Wie konnte man diese Bewegungen in eine konstruktive Richtung lenken? Was konnte und musste die KPDSU dazu tun? Auf diese Fragen sollte die 19 . Parteikonferenz eine Antwort geben.
    Öffentliche Parteidiskussion
    Die Welle der politischen Leidenschaften im Zusammenhang mit dem Anti-Perestrojka-Manifest der Nina Andrejewa hatte unterschiedliche Einstellungen zur Politik der Perestrojka sowohl an der Spitze der KPDSU als auch in den unteren Rängen zu Tage gefördert. Aber die Skepsis im Hinblick auf den Kurs der Erneuerung und die Sehnsucht nach der Stagnation der Breschnew-Ära, ja sogar nach der Stalin-Zeit hatten ihren Grund nicht nur in den eigennützigen Interessen der Nomenklatur und Bürokratie. Sie waren auch tief in den Stereotypen des Massenbewusstseins verankert, das sich in den Jahrzehnten der totalen politischen und ideologischen Kontrolle und der Monopolherrschaft der KPDSU mit ihrer alles durchdringenden Bürokratie herausgebildet hatte. In der Folge war eine Entfremdung der Mehrheit des Volks von Macht und Eigentum eingetreten, eine Verwandlung der Bürger in »Schräubchen«, die gänzlich vom Willen und der Willkür der Beamten abhingen. Dem Menschen die Möglichkeit geben, nicht ein »Schräubchen«, sondern Bürger und Herr seines Lebens, seines Schicksals, seines Landes zu sein, ihm den Raum für seine schöpferischen Fähigkeiten öffnen, das konnte man nur, wenn man seine gesellschaftliche Stellung änderte. Genau das war Sinn und Zweck der Perestrojka.
    Wie ich schon sagte, ging ich davon aus, dass das viele Jahre brauche, mindestens zwei oder drei Jahrzehnte oder auch mehr. Schon die ersten Hürden der Perestrojka waren ein Warnzeichen, dass es auch zu Rückzugsbewegungen in die Vergangenheit mit schwer voraussehbaren Folgen kommen könnte. Es mussten unverzüglich gesellschaftspolitische und staatliche Garantien geschaffen werden, um die eingeleitete Reform der Gesellschaft und jenes Systems zu vertiefen, das jahrelang gewohnheitsmäßig »realer« oder gar »entwickelter« Sozialismus genannt wurde, mit all seinen »Deformierungen« und Sackgassen. Der »stalinistische Sozialismus« konnte auf keinen Fall als Vorbild dienen. Von dieser Form des »Sozialismus« mussten wir uns entschieden distanzieren und durften eine Rückkehr der Gräuel des Stalinismus nicht zulassen. So wie viele meiner Freunde und Genossen der sechziger Jahre war ich überzeugt von der Möglichkeit eines humanen und demokratischen Sozialismus.
    In der gefährlichen Situation des Frühjahrs 1988 war es vor allem mein Anliegen, Unstimmigkeit

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