Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
osteuropäischen Länder befreiten sich von der sowjetischen Vormundschaft und suchten schnellstens den Anschluss an Europa. Die gesamte globale Architektur änderte sich. Die Teilung in »zwei Welten«, in West und Ost, verlor ihren Sinn. Eine gewisse Zeitlang sah es sogar so aus, als ob die Welt geeint sei, denn die erneuerte Sowjetunion beabsichtigte, »ins europäische Haus«, »in die Familie der europäischen Völker zurückzukehren«.
Das Ausland ist Gorbatschow dankbar für die friedliche Demontage des Stalinreiches und rechnet ihm das als Verdienst an. Aber es gibt genügend Gründe für die Annahme, dass Gorbatschow im Jahr 1985 , als er an die Macht kam, dieses geopolitische System nicht zerstören, sondern festigen wollte. In diesem Sinne kann man sagen, dass er das, wovon er träumte, nicht erreicht hat, während das, was er in Wirklichkeit geschaffen hat, nicht von ihm geplant war.
Das Ausland ist Gorbatschow dankbar. In dem von ihm geführten Land aber sieht man den »Zusammenbruch des Systems« als seine Schuld und nicht als sein Verdienst. Nach einer kurzen Zeit der Popularität fiel Gorbatschow bei seinem Volk in Ungnade, und diese Situation hat sich bisher kaum geändert. In der Liste derer, über die sich die Russen positiv äußern (ca. dreißig Politiker, denen sie vertrauen), steht Gorbatschow heute an drittletzter Stelle.
Nur wenn man alles oben Gesagte berücksichtigt, kann man eines der Ergebnisse der vom Lewada-Zentrum Anfang Juli dieses Jahres durchgeführten Befragung richtig einschätzen. Die Frage lautete: »Wie schätzen Sie heute die Ergebnisse der ›Veränderung des außenpolitischen Kurses Ende der achtziger Jahre‹ ein?« Hier ist also genau der Kurs angesprochen, der in Russland als Verrat, Betrug, Nachgiebigkeit oder Niederlage empfunden wurde. Dementsprechend wählten 27 Prozent die Antwort: »Wir haben gegen den Westen verloren.«
Aber wie hat sich die Einschätzung im Zuge des Nachdenkens über Gorbatschows historische Wende geändert? 43 Prozent kreuzten die Antwort an: »Dass die Konfrontation geendet hat, ist für uns kein geringerer Gewinn als für die anderen.« Von den unteren und mittleren Führungspersonen urteilten sogar 57 Prozent so. In dieser indirekten Form drückt das Land Gorbatschow seine Dankbarkeit aus.
Also haben wir den Dritten Weltkrieg doch nicht verloren. Allerdings ist die Hälfte der Russen der Meinung, dass ihr Land immer noch von außen bedroht sei. Doch unter der Hauptbedrohung fungiert jetzt nicht nur der Westen mit 32 Prozent, sondern auch die islamischen Länder mit 29 Prozent (die »Länder der früheren Sowjetunion« fürchten 16 Prozent, China 13 Prozent). Von den Führungspersonen wird der islamische Osten als Hauptbedrohung gesehen und von 50 Prozent genannt. Den Westen dagegen fürchten nur ganz wenige, keine 10 Prozent. Sie drücken mit ihren Antworten sogar eine Meinung aus, die der obersten Führung des Landes widerspricht. Diese überschätze ihrer Auffassung nach die Bedrohung durch den Westen und unterschätze die vom Osten ausgehende. Ein solches »neues Denken« hat sich inzwischen gebildet.
Die Reform des politischen Systems
Die öffentlichen Debatten auf der 19 . Parteikonferenz hatten für die Perestrojka prinzipielle Bedeutung. In ihrem Zuge setzten sich die besonnenen Kräfte der Gesellschaft die Unterstützung und Fortsetzung der Umgestaltungsprozesse zum Ziel. Die Ausrichtung auf eine durchgreifende politische Reform bereicherte und stärkte die Perestrojka. Dieser Kurs gab uns die Chance, deren Horizonte und Perspektiven zu erweitern. Im Wesentlichen ging es darum, einen gewaltlosen, friedlichen Übergang von dem überholten politischen System, das auf dem Machtmonopol der Partei basierte, zu einem neuen System zu gewährleisten, in dem die reale Macht beim Volk, bei den Räten liegt, denen sie auch laut Verfassung zusteht.
Ich betone immer wieder, dass dies eine äußerst schwierige, in vieler Hinsicht schmerzhafte, aber unvermeidliche Aufgabe war. Um sie zu lösen, mussten wir das Verständnis und die Unterstützung der Bevölkerung gewinnen. Das war ein schwieriger, vielschichtiger Prozess, und nicht alle erwiesen sich ihm als gewachsen. Als Generalsekretär ließ ich mich bei der Parteiarbeit stets von demokratischen Prinzipien leiten – und zwar bis zum Äußersten, wie ich unterstreichen möchte: Alle Entscheidungen wurden offen und gemeinsam auf den Sitzungen des Politbüros, des ZK
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