Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
aktuellen Bedingungen auf der Tagesordnung. Ich erzählte von einem Treffen mit Jugendlichen, auf dem mich die Komsomolzen gefragt hatten: »Warum brauchen wir diese große Armee, warum brauchen wir so viele Panzer?« Die 19 . Parteikonferenz hatte dazu prinzipielle Leitlinien gegeben: Wir brauchen Qualität und nicht Quantität. Der Moment war gekommen, grundsätzliche Entscheidungen zu treffen. Unsere Militärausgaben waren pro Kopf der Bevölkerung zweieinhalb Mal so hoch wie die der USA . Wenn wir das der Öffentlichkeit preisgegeben hätten, hätte sich unser ganzes neues Denken sang- und klanglos in Luft aufgelöst. Aber das war nicht die Hauptsache. Wir hätten die Aufgaben der Perestrojka nicht lösen können, wenn wir in der Armee alles gelassen hätten, wie es war. Es war an der Zeit, über die Reduktion unserer militärischen Präsenz in den sozialistischen Ländern nachzudenken. Wir mussten dieses Problem mit unseren Freunden besprechen.
Was unserer Außenpolitik die Kraft gab, war unsere innere Perestrojka und die Einsicht in die Veränderungen, die das neue Denken mit sich brachte. Zu meinen, dass Gorbatschow deswegen zu den Vereinten Nationen reiste, weil wir im eigenen Land in einer Sackgasse steckten, ist reichlich naiv. Die Perestrojka hatte den Weg für eine Erneuerung unseres eigenen Landes geöffnet und entsprach den akuten Bedürfnissen der Welt, zu einer neuen Friedensperspektive zu kommen.
Die Schritte zur Abrüstung wurden unter der Federführung Marschall Achromejews festgelegt. Zeitgleich mit den Vorschlägen zur Reduzierung unserer Truppen und Waffen arbeiteten wir auch weiter an Schritten im humanitären Bereich. Das betraf die Freilassung aller »politischen Gefangenen« und einer Zwangsbehandlung Unterzogenen (Opfer der »Strafpsychotherapie«, die in den Vor-Perestrojka-Jahren praktiziert wurde). Die ungerechtfertigten und zum Teil willkürlichen Beschränkungen der Ausreise von Bürgern ins Ausland wurden aufgehoben. Die Arbeit der Kommission zur Rehabilitierung der Stalin-Opfer ging weiter. Im Zuge dieser Arbeit wurden in verschiedenen Gebieten geheime Massengräber Tausender Erschossener entdeckt.
Kurz: Unsere Arbeit der Erneuerung, Aufarbeitung, Demokratisierung und Humanisierung aller Seiten unseres staatlichen und gesellschaftlichen Lebens verlief in allen Richtungen und wurde aktiv fortgesetzt. Die Absicht meiner Rede in der Generalversammlung der UNO bestand darin, der Weltgemeinschaft unsere neue Sicht und konstruktive Lösungen der weltpolitischen Probleme am Vorabend des 21 . Jahrhunderts vorzustellen. Wir hatten ein politisches, ganzheitliches, keinesfalls propagandistisches Konzept für den Übergang von Konfrontation zu Zusammenarbeit ausgearbeitet, das die ganze Welt mit all ihren neuen Möglichkeiten und Gefahren betraf. Das sollte unser »Manifest« oder eine »Friedens-Charta« sein und sich bewusst von der Rede Churchills absetzen, die damals den Kalten Krieg eingeläutet hatte.
Ich erklärte, eine Konfrontation sei in der heutigen Welt perspektivlos und lebensgefährlich, daher dürften ideologische Unterschiede und Widersprüche nicht auf zwischenstaatliche Beziehungen übertragen werden. Stattdessen sähen wir Möglichkeiten und Perspektiven für eine konstruktive Lösung der internationalen und weltweiten Probleme auf dem Weg gleichberechtigter Zusammenarbeit. Mit einem Wort: Es war eine fundierte und ausführliche Einladung der Welt zu einer konstruktiven Wende von historischer Bedeutung, zu einem zivilisierten Durchbruch ins 21 . Jahrhundert.
Auftritt auf der 43 . Generalversammlung der UNO am 7 . Dezember 1988 in New York
Quelle: S. Lwin
Wenn ich mir heute diese Rede durchlese, die ich vor mehr als zwanzig Jahren gehalten habe, stelle ich fest, dass sie nicht überholt ist. Haben die folgenden Prinzipien und Überlegungen, die ich am 7 . Dezember 1988 vorstellte, etwa heute ihre Aktualität und positive Perspektive verloren?
Wichtigste Komponente und Garantie der internationalen Sicherheit ist die Zusammenarbeit der Staaten auf der Grundlage des Völkerrechts. Von allen, besonders aber von den stärksten Staaten, ist Selbstbeschränkung und totaler Verzicht auf Gewaltanwendung von außen gefordert. Das heutige Ideal muss eine gewaltfreie Welt sein. Gewalt und Drohung können und sollen nicht mehr Instrument der Außenpolitik sein.
Die Steigerung der militärischen Stärke macht keinen Staat allmächtig. (Diese Einsicht hat sich noch immer
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