Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
-Plenums und auf Parteiversammlungen erörtert. Ich sage ganz offen: Dieses Vorgehen stieß längst nicht immer auf das Verständnis meiner Kollegen, die vorgegebene, rasche autoritäre Entscheidungen gewohnt waren.
Die erste ernste Prüfung für die Partei nach der 19 . Parteikonferenz waren die Wahlen der Delegierten zum Kongress der Volksdeputierten im März 1989 . Die Beteiligung der Wähler und die Konkurrenz der Kandidaten ( 15 bis 17 für einen Platz) waren beeindruckend. Am Wahlkampf beteiligten sich Tausende von informellen Vereinigungen und Organisationen. Die Ergebnisse der Wahlen waren nicht vorherzusagen, wie das bei wirklich freien Wahlen eben zu sein pflegt.
Ein Schock für die Parteinomenklatur war die Niederlage einer Reihe hoher Parteiführer. In Moskau und besonders in Leningrad fiel fast die gesamte Spitze des Stadt- und Gebietskomitees der KP durch. Starke Verluste mussten die Funktionäre vieler großer Industrie- und Wissenschaftszentren des Wolgagebiets, des Urals, Sibiriens, des Fernen Ostens, der Süd- und Westukraine, des Baltikums, Armeniens und Georgiens hinnehmen. Auf der anderen Seite konnten sich nicht nur Kulturschaffende, Wissenschaftler und Künstler durchsetzen, sondern auch viele neue Kandidaten, die der breiten Öffentlichkeit nicht bekannt waren. 84 Prozent der Deputierten waren KPDSU -Mitglieder. Durch die Wahlen sah sich die Parteinomenklatur im höchsten Machtorgan von »gewöhnlichen« Parteimitgliedern an den Rand gedrängt. Viele Führer der republikanischen und lokalen Parteiorgane konnten sich mit den Wahlergebnissen schlecht abfinden. Defätismus und voreilige Schlüsse, die Perestrojka sei gescheitert, machten sich breit.
Ich bekam das auf den ersten Politbürositzungen nach den Wahlen stark zu spüren. Dabei war ich selbst fest davon überzeugt, dass die Perestrojka und das Volk einen großen politischen Sieg davongetragen hatten. Die Menschen hatten der Welt und sich selbst gezeigt, dass freie Wahlen bei uns Wirklichkeit geworden sind. Die obersten Organe waren demokratisch und legitim zur Macht gekommen. Damit stand einem echten Parlamentarismus nichts mehr im Weg. Und das nach Tschernobyl, dem Erdbeben in Armenien, nach Afghanistan, dem Fall der Ölpreise und nationalen Konflikten.
Für mich war klar, wenn die Partei auf diese Prozesse einwirken, ihre Entwicklung lenken wollte, musste sie Schlussfolgerungen aus den Wahlen ziehen; sie hatte es nun mit neuen demokratischen Machtorganen und neuen politischen Vereinigungen, darunter auch oppositionellen, zu tun. Die Politik war zu einer öffentlichen Angelegenheit geworden, die der Einsicht und Beteiligung der Bürger und ihrer politischen Parteien offenstand. Sie hatte aufgehört, Sache eines kleinen Kreises von Personen und Clans »ganz oben« und einer für die einfachen Leute undurchsichtigen Sphäre geheimen Kampfes zu sein, in der ihnen nur die Rolle der »Schräubchen« oder eines Chores der Zustimmung zugedacht war. Das war eine ungeheure gesellschaftspolitische Wende, ein Durchbruch unseres Landes und Volkes zu qualitativ neuen Ufern der Zivilisation. Trotzdem wurde die Perestrojka von einem bedeutenden und einflussreichen Teil der Parteibürokratie mittlerer und oberer Ebene zunehmend negativ oder sogar feindselig aufgenommen. Der Widerstand vonseiten der konservativen Nomenklatur machte sich immer stärker bemerkbar.
Im Sommer 1990 sah ich mir die Situation in den Parteiorganisationen Leningrads an. Die Arbeiter fragten im Plenum des Gebietskomitees einer nach dem anderen: »Was ist mit unserer Parteiorganisation los? Die Leidenschaften kochen, aber in den Parteikomitees herrscht Stille, die schlafen.« Die Arbeit mit den Menschen liegt brach, lebenswichtige Probleme werden nicht angepackt. Die Parteikomitees fordern: »Nehmt uns vor den Medien, vor der Unzufriedenheit der Massen in Schutz!« Viele lokale Machtorgane waren gelähmt. In den Republiken und Gebieten, wo es einen Haufen freier Ländereien gab, weigerte sich die lokale Obrigkeit hartnäckig, sie zur Verpachtung freizugeben. Die neu entstandenen Farmen machten die Leute neidisch, manchmal wurden sie von der Bevölkerung abgefackelt. Die Arbeiter hätten die Leute der neuen Kooperativen am liebsten erwürgt. Und die Nomenklatur rieb sich schadenfroh die Hände: »Wir können nichts mehr tun, wir haben keine Macht mehr, da habt ihr eure Perestrojka!«
Der lokale Widerstand gegen die Perestrojka kam nicht von ungefähr. Er wurde aktiv von
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