Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
Wahlen zu den höchsten Machtorganen der Russischen Unionsrepublik im Frühjahr 1990 strebten die Radikaldemokraten die nationale Souveränität Russlands an und scheuten auch die Unterstützung nationaler Separatisten und eine direkte offene und geheime Mitarbeit mit ihnen nicht. Jelzin und seine Anhänger gebärdeten sich als entschiedenste Verteidiger der Interessen der russischen Bürger gegen das Unionszentrum und die »Schmarotzer« der anderen Unionsrepubliken. Dabei operierten sie mit angeblich wissenschaftlich fundierten Fakten, nach denen die Russische Föderation, wenn sie sich von den »Fesseln« der Union und der finanziellen Unterstützung der anderen Republiken befreien würde, in kürzester Zeit zu den florierenden Wirtschaftsmächten der Welt aufsteigen würde. Das war eine riskante und, wie die Jahre zeigen sollten, destruktive Linie sowohl für die Perspektiven einer Erneuerung der Union als auch für die Russische Föderation selbst. Sie widersprach dem Kurs des Reformflügels der Union und des Kongresses der Volksdeputierten, die an der Lösung zweier eng miteinander zusammenhängender Hauptaufgaben arbeiteten.
Die eine war die Umformung des Staatswesens der Union in eine demokratische Föderation der Republiken. Meine Losung dafür lautete: »Ein starkes Zentrum – starke Republiken.« Die andere dringende Aufgabe war eine radikale Wirtschaftsreform der Union, durch die die Wirtschaft ohne zu große soziale Erschütterungen auf Marktbeziehungen umgestellt werden sollte.
Das wichtigste und gefährlichste Hindernis, um diese Aufgaben zu lösen, war die Weigerung der russischen Radikaldemokraten. Sie steuerten ein destruktives Konzept der Souveränität Russlands an, mit dem die Gesetze der Russischen Republik über die der Union gestellt werden sollten. Dieses Konzept wurde von dem engsten Kreis um Jelzin direkt von den radikalsten Separatisten Estlands, Litauens und Lettlands übernommen. Sie verwiesen erneut auf die Ereignisse des Jahres 1939 im Zusammenhang mit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt. Aber während diese Auffassung bei den baltischen Republiken zu ihrem Austritt aus der Sowjetunion führte, so bedeutete die Realisierung dieses Modells in der Russischen Föderation letztlich die Zerstörung der Union als Staatswesen. Boris Jelzin und sein Gefolge schickten sich an, genau dieses Konzept in die Realität umzusetzen, indem sie aktiv Moskauer und andere russische Intellektuelle »ultrarevolutionären« Schlages aktiv unterstützten.
Bei der Aufstellung ihrer Kandidaten zur Wahl des russischen Kongresses der Volksdeputierten unterliefen der KPDSU schwere Fehleinschätzungen. Die Partei verlor die Wahl des Vorsitzenden des Obersten Sowjets der Russischen Föderation. Ich hatte die Deputierten ganz offen davor gewarnt, Jelzin auf diesen Posten zu wählen, weil ich voraussah, dies werde zu einer gefährlichen Konfrontation mit dem Zentrum der Union führen. Aber sei es um Gorbatschow eins auszuwischen oder weil sie sich Hoffnungen auf eine Karriere machten, im letzten Moment stimmten eine Reihe von Abgeordneten aus der Fraktion »Kommunisten Russlands« für Jelzin, sodass er eine Mehrheit von vier Stimmen erhielt. Darüber hinaus erklärte Russland mit Stimmen aus der kommunistischen Fraktion seine Unabhängigkeit und stellte seine Gesetze ausdrücklich über die der Union.
Das war eine klare Kampfansage an die Perestrojka und die Union. Die in der Unabhängigkeitserklärung enthaltene Klausel zu Russlands »Entschlossenheit, Mitglied in einer erneuerten Union zu bleiben«, beruhigte lediglich vorübergehend viele kommunistische Abgeordnete und wurde schon ein halbes Jahr später von Jelzin ohne viel Aufhebens gestrichen.
Unter dem Motto einer Stärkung der nationalen Souveränität wurden auch in anderen Republiken Wahlen durchgeführt. Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Probleme beeilten sich die lokalen Eliten, ihre eigene Stellung zu sichern, und schreckten dabei selbst vor dem Schüren nationaler Leidenschaften nicht zurück. Und das, obwohl die Mehrheit der Führer der Unionsrepubliken, ebenso wie die Mehrheit der Bevölkerung, erkannte, wie sehr unionsweite Beziehungen und der Erhalt eines erneuerten Zentrums im Interesse der Republiken selbst waren. Ich sah das als Chance für den Übergang von einer einheitlichen Union zu einer echten Föderation souveräner und unabhängiger Staaten. Dieser Prozess wurde durch das Aufflammen nationaler Konflikte erschwert, die
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