Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
gelegenen Stadt Stupino, wo mir auch Wohnraum in Aussicht gestellt wurde. Raissa und ich zerbrachen uns über diese Vorschläge nicht lange den Kopf. Warum sollten wir an unbekannte Orte fahren, unser Glück in fremden Gegenden suchen? Sibirischen Frost und die Gluthitze Asiens, das gibt es alles auch im Stawropoler Land.
Diese Lösung drängte sich auf. Und so wurde in dem offiziellen Schreiben, in dem es hieß, »zur Staatsanwaltschaft der UDSSR schicken«, » UDSSR « durchgestrichen und durch »Region Stawropol« ersetzt.
Nach Hause also, nach Stawropol. Doch vorher wollten wir Raissas Eltern besuchen. Wir mussten endlich »beichten«.
Ein paar Worte zu Raissas Familie. Raissas Vater war Ende der zwanziger Jahre aus der Ukraine in das Altai-Gebiet gezogen, um den berühmten Tschuisker Trakt, die Verbindungsstraße zwischen dem Altai und der Mongolei, zu bauen. Dort begegnete er Raissas Mutter. Sie heirateten. Als Alexandra Petrowna 19 Jahre alt war, kam Raissa auf die Welt. Ihr Vater legte das Neugeborene auf seine ausgestreckte Hand. Die Kleine erschien ihm zart und rosig wie ein Paradiesapfel. Deshalb nannte er sie Raja, was von dem russischen Wort
raj
für »Paradies« abgeleitet ist. Ihr Vater liebte Raissa bis an sein Lebensende sehr.
Raissas Vater und Mutter stammten aus der Ukraine; ihr Vater aus der Gegend um Tschernigow, ihre Mutter aus der Gegend um Poltawa. Sie kam aus einer wohlhabenden Bauernfamilie. Während der Kollektivierung war Raissas Großvater enteignet worden, und die Familie zerstreute sich in alle Winde: die einen nach Kasachstan, die anderen in den Fernen Osten, die dritten ins Altai-Gebiet. Die Familie zerfiel also. Der Großvater »trieb Kleinhandel«, das heißt, er zog durch die Dörfer und nahm jede Arbeit an, die sich ihm bot. Doch dann kamen die dreißiger Jahre, er wurde verhaftet und des »Trotzkismus« angeklagt. Eine »Trojka« verurteilte ihn zur Erschießung. Die Kinder kamen alle durch. Der Sohn war Leiter eines Binnenhafens in Kasachstan; Maria Petrowna, die Schwester von Raissas Mutter, absolvierte eine medizinische Ausbildung und arbeitete in ihrem Beruf.
Raissas Vater, Maxim Andrejewitsch, arbeitete vierzig Jahre als Ingenieur beim Eisenbahnbau: in Sibirien, im Ural, in Baschkirien und dann in der Ukraine, in der Gegend von Neschinsk und im Dongebiet. Er war bei der Elektrifizierung der Eisenbahn im Kubangebiet dabei, der letzten Station seines Arbeitslebens. In Krasnodar ist er auch beerdigt. Alexandra Petrowna starb in Ufa und ist dort begraben. Sie hat meine Mutter nur um drei, vier Monate überlebt.
Wunderbar, wie die Menschen sich finden. Raissas Eltern kamen nach Priwolnoje, um meine Eltern kennenzulernen. Die Väter waren sich auf Anhieb sympathisch. Sie hatten den gleichen Charakter und wurden sofort Freunde. Auch die Frauen kamen miteinander zurecht; sie hatten sich viel zu sagen, denn sie gehörten ja zu derselben Generation und hatten Erinnerungen, die sie verbanden. Raissas und mein »Vergehen« geriet in Vergessenheit. Wir waren nun eine große Familie. Und jetzt sind weder meine Eltern noch Raissas Eltern am Leben. Und auch Raissa selbst nicht mehr.
Damals, 1955 , fuhren Raissa und ich nach Baschkirien. Raissas Bruder Jewgenij und ihre Schwester Ljudmila, die gerade die zehnte Klasse abgeschlossen hatte, holten uns ab. Als ich mich auf den Rückweg nach Stawropol machte, begleitete ich Ljudmila nach Ufa, wo sie ihr Medizinstudium aufnahm. Sie schloss das Institut erfolgreich ab und arbeitete ihr ganzes Leben als Ärztin.
Mit Raissa, ihrer Mutter Alexandra und Schwester Ljudmila, 1955
Maxim Andrejewitsch war ein herzensguter Mann, doch mein Verhältnis zu Raissas Mutter war anfangs schwierig. Einmal wachte ich auf und ging in die Küche, wo sie Essen zubereitete und irgendetwas abklopfte. Ich sagte zu ihr: »Raissa schläft.« Als der Tag begonnen hatte, gingen Raissa und ich spazieren, und sie sagte: »Man hat sich über dich beklagt.«
»Worüber denn?«
»Mutter sagt, du hättest sie gerügt, sie solle in der Küche keinen Krach machen, um mich nicht zu wecken.«
Raissa schlief schlecht. Sie litt an Schlaflosigkeit. Sie sagte zu mir: »Weißt du, was Mutter gesagt hat? ›Was hast du denn da für einen Juden angeschleppt!‹«
Raissa und ich sahen diese Worte nicht als Kritik an, sondern verstanden sie als höchstes Lob. Bekanntlich begegnen die jüdischen Männer ihren Frauen in der Regel sehr aufmerksam.
Schon bald avancierte ich
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