Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
als Jawaharlal Nehru in den Junitagen des Jahres 1955 Moskau besuchte. Ich nahm an dem Treffen Nehrus mit Lehrern und Studenten im Auditorium maximum der Universität auf den Leninbergen teil. Dieser wunderbare Mann mit seiner edlen Haltung, den klugen, durchdringenden Augen und seinem gutmütigen, entwaffnenden Lächeln machte auf mich einen starken Eindruck. Ich habe seine warmherzigen Worte über unsere Alma Mater in Erinnerung und seine Hoffnung, die Universität werde Jungen und Mädchen heranbilden, die »einen großen Verstand und ein großes Herz« haben und »Träger des guten Willens und des Friedens« sein werden.
Der indische Gast versprach sich von der Perspektive des Friedens den Erhalt und Fortschritt der Zivilisation, den Gebrauch des neuesten wissenschaftlichen und technischen Knowhow zum Wohle der ganzen Menschheit und die Beseitigung aller dem Wachstum unseres Bewusstseins und Geistes entgegenstehenden Hindernisse und Barrieren.
Für Menschen, die darauf getrimmt sind, die Ereignisse der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft vom »Klassenstandpunkt« aus zu betrachten, klangen diese Worte ungewöhnlich und aufregend. Viel später, im Dezember 1986 , als ich meine Unterschrift unter die Deklaration von Delhi über die Prinzipien einer atomwaffenfreien und gewaltlosen Welt neben die von Nehrus Enkel, dem Premierminister Indiens Rajiv Gandhi, setzte, kamen mir diese Wort wieder in den Sinn.
Raissa hatte die Universität ein Jahr früher abgeschlossen. Sie begann ihr Aufbaustudium, legte die entsprechenden Prüfungen ab und arbeitete an ihrer Dissertation. Ihr schwebte eine wissenschaftliche Karriere in der Hauptstadt vor.
Auch mir machte man das Angebot, am Lehrstuhl für Kollektivwirtschaftsrecht zu promovieren, doch dagegen hatte ich prinzipielle Einwände. Meine Einstellung zum sogenannten »Kolchosrecht« war längst klipp und klar. Aber ich machte mir um meine Zukunft keine Sorgen. Als Komsomol-Sekretär war ich Mitglied der Kommission für den Absolventeneinsatz und wusste, dass mein Schicksal schon entschieden war. Ich gehörte zu den zwölf Absolventen (elf von ihnen waren ehemalige Frontsoldaten), die zur Staatsanwaltschaft der UDSSR geschickt wurden.
Die Rehabilitation der Opfer des Stalinismus hatte begonnen, und man wollte uns in den neu eingerichteten Staatsanwaltsabteilungen einsetzen, die die Rechtmäßigkeit der Verfahren der Staatssicherheitsorgane zu überprüfen hatten. Ich versprach mir von meiner zukünftigen Arbeit, für den Sieg der Gerechtigkeit kämpfen zu können, und das stimmte vollkommen mit meinen politischen und ethischen Vorstellungen überein.
Am 30 . Juni legte ich die letzte Prüfung ab. Ins Wohnheim zurückgekehrt, fand ich in meinem Briefkasten das offizielle Schreiben, das mich zu meiner künftigen Arbeitsstelle, der Staatsanwaltschaft der UDSSR , einlud. In Hochstimmung fuhr ich hin. Ich erwartete ein Gespräch über meine neuen Pflichten und überlegte mir Vorschläge dazu. Doch als ich erwartungsvoll und lächelnd die Schwelle des in dem Schreiben angeführten Büros übertrat, bekam ich von dem dort sitzenden Beamten nur trocken und bürokratisch zu hören: »Sie für die Arbeit in der Staatsanwaltschaft der UDSSR einzusetzen, ist ausgeschlossen.«
Es stellte sich heraus, dass die Regierung eine interne Verfügung erlassen hatte, nach der die Hinzuziehung von Absolventen juristischer Hochschulen zur Arbeit der zentralen Rechtsorgane streng verboten war. Begründung: Zu den zahlreichen Faktoren für das Überhandnehmen der massenweisen Repressionen in den dreißiger Jahren gehöre auch die Tatsache, dass zu viele Jugendliche ohne Berufs- und Lebenserfahrung damals über das Schicksal der Menschen entschieden hätten. Ausgerechnet ich, der ich in einer Familie aufgewachsen war, die unter den Repressionen zu leiden hatte, wurde paradoxerweise ein Opfer des »Kampfes für die Wiederherstellung der sozialistischen Rechtmäßigkeit«.
Das war ein Schlag für mich. Alle meine Pläne brachen buchstäblich in einer Minute zusammen. Ich hätte mir natürlich ein sicheres Plätzchen an der Universität suchen und in Moskau bleiben können. Auch meine Freunde spielten verschiedene Möglichkeiten durch. Aber ich hatte keine Lust dazu.
Man bot mir Arbeit bei der Staatsanwaltschaft in Tomsk an, in Blagoweschtschensk, in der Republikstaatsanwaltschaft von Tadschikistan und schließlich eine Assistentenstelle beim Staatsanwalt der ganz in der Nähe von Moskau
Weitere Kostenlose Bücher