Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
aber zum geliebten Schwiegersohn. Um meine Schwiegermutter ein bisschen auf den Arm zu nehmen, erinnerte ich sie allerdings hin und wieder daran, wie sie mich beim ersten Mal aufgenommen hatte. Beide Mütter waren korpulente, schöne und tüchtige Frauen und wussten, was sie wollten.
Raissas Bruder Jewgenij hatte die Nachimow-Schule mit Auszeichnung abgeschlossen und wurde an die Marineakademie in Leningrad geschickt. Er war begabt, von Natur aus gewissenhaft, ehrlich und sehr empfindlich gegen jede Ungerechtigkeit. Dieser Charakter brachte ihm den Ausschluss aus der Marineakademie ein. Er wurde zur Nordflotte geschickt. Dort fing er an zu schreiben und veröffentlichte auch. Nach seiner Demobilisierung nahm er ein Studium am Literaturinstitut in Moskau auf. Er schrieb ein paar Novellen und zwei, drei Kinderbücher. Außerdem verfasste er zwei Romane: einen,
Der Erdrutsch
, über eine Bergwerkskatastrophe, den Tod der Menschen und die Erschießung von demonstrierenden Arbeitern; ich habe ihn im Manuskript gelesen. Dann arbeitete er lange an dem Roman
Feueranbeter
. Weder der erste noch der zweite Roman erschien, die Manuskripte sind verloren gegangen. Sein unbehütetes Leben, die Absonderung von der Familie und der frühe Konsum von Alkohol entwickelten sich zu einer großen Tragödie. Raissa liebte ihren Bruder und unternahm viele Versuche, auf ihn einzuwirken und ihm eine Behandlung zukommen zu lassen. Vergebens.
Wir hatten kein Glück mit unseren Brüdern. Ich habe schon von meinem Bruder Alexander erzählt, einem Oberst. Er erkrankte an Krebs. Die Schicksalsschläge in Bezug auf unsere Brüder hinterließen in unseren Familien große Wunden.
Raissa blieb einen Monat bei ihren Eltern, während ich nach Moskau fuhr. Die letzten Julitage verbrachte ich mit Reisevorbereitungen. Unsere Habseligkeiten passten in zwei Koffer. Für die Bücher, das Schwerste, hatte ich eine Riesenkiste besorgt, packte sie bis oben voll, brachte sie mit dem Lastentaxi zum Bahnhof und gab sie als »langsame Fracht« nach Stawropol auf, weil das billiger war. In der folgenden Nacht sollte ich selber losfahren.
Ich kehrte in das Studentenheim in den Leninbergen zurück, duschte, legte mich aufs Bett, schloss die Augen und dachte zum ersten Mal über die Frage nach, zu der ich später mehr als einmal zurückkehrte: Welche Bedeutung hatte die Universität Moskau für mein Leben?
Natürlich war meine Familie der wichtigste Anstoß für die Entwicklung meiner Persönlichkeit. Natürlich haben die Lehrer und die Schule mich gefördert. Ich bin den älteren Mechanikern, die mir das Verständnis für das Wertesystem eines arbeitenden Menschen nahegebracht haben, dankbar. Und doch war es die Moskauer Universität, die mir die Grundkenntnisse und die geistige Neugier vermittelte, die für meinen Lebensweg eine entscheidende Rolle spielten. Ich kann mit Sicherheit sagen: Ohne diese fünf Jahre ist der Politiker Gorbatschow nicht denkbar. Das an der Universität verlangte hohe intellektuelle Niveau bewahrte mich vor Überschätzung und Selbstsicherheit. Das half mir in den schwierigsten Tagen.
In Moskau an der Universität begegnete ich Raissa. Zu ihren Lebzeiten sagte ich oft im Scherz und im Ernst, sie habe Glück mit ihrem Mann. Sie war gegenteiliger Ansicht: Nein, ich sei es, der Glück mit seiner Frau habe. Der Streit ist nicht beendet. Ich hoffe auf ein Treffen, darauf, dass wir weiter streiten können. Wir waren glücklich miteinander.
Vor kurzem wurde mir in einer Fernsehsendung von Wladimir Posner die Frage gestellt: »Angenommen, es würde sich Ihnen auf einmal die Möglichkeit bieten, mit jemand zu sprechen, der schon tot ist, mit wem würden Sie sprechen wollen?«
»Natürlich mit Raissa! Wir haben über vieles noch nicht gesprochen.«
3 . Kapitel
Rückkehr ins Stawropoler Land
In die Stadt Stawropol, die Hauptstadt der Region, kam ich Ende Juli 1955 . Ich war der Regionsstaatsanwaltschaft zugeteilt worden. Am 5 . August trat ich die Stelle an. Wir waren eine ganze Gruppe von Absolventen der Juristischen Fakultät. Abends spazierte ich durch die Stadt – lernte sie kennen und suchte nebenbei eine Wohnung. Mich begeisterten das üppige Grün und das typisch provinzielle Aussehen der Stadt. Vereinzelte drei- oder viergeschossige, meist ein- und zweistöckige Häuser mit Anbauten und Aufstockungen einer bizarren Architektur, die für viele Städte der russischen Peripherie jener Zeit charakteristisch ist.
Vom Zentrum zog sich
Weitere Kostenlose Bücher