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Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Titel: Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Gorbatschow
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eine breite grüne Allee nach Osten, abwärts zu den Festungstoren, an denen sie einst geendet hatte – Stawropol war ja ursprünglich eine Festung. Sie hieß Tiflisser Straße, Straße nach Tiflis … Und dann noch eine örtliche »Sehenswürdigkeit«, die sich eingeprägt hat: eine Riesenpfütze am pädagogischen Institut. Das hing damit zusammen, dass die Oberstadt auf einer Steinplatte ruhte. Wenn es regnete, floss das Wasser entweder ab oder sammelte sich in den Mulden der Platte. Diese Pfütze wurden wir erst los, als während meiner Tätigkeit als Parteisekretär des Stawropoler Stadtkomitees endlich ein Abflusssystem für das Regenwasser gebaut wurde. Neben dem Hotel Elbrus, in dem ich wohnte, lag der Untere Markt, eine Attraktion wegen seiner sagenhaft niedrigen Preise für Obst und Gemüse. Für ein paar Kopeken konnte man einen halben Eimer Tomaten erstehen. Aber ich war sparsam. Bis zu Raissas Ankunft musste ich eine einigermaßen akzeptable Bleibe gefunden haben.
    Ich fing sofort mit der Suche an, aber meine Anfragen in verschiedenen Häusern verliefen in den ersten drei, vier Tagen ergebnislos. Die Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft rieten mir, mich an Makler zu wenden. Die Staatsanwaltschaft und die Miliz verfügten über eine Liste von ihnen. Sie gaben mir die Adresse einer erfahrenen Maklerin, die in der Ipatowa-Straße  26 wohnte. Als sie mich sah, verstand sie sofort, dass ich nicht kam, um gegen das verbotene Gewerbe zu kämpfen, sondern Hilfe brauchte. Sie nahm 50  Rubel und gab mir die Adresse von drei Häusern. Eins davon war in der Kasanskaja-Straße. Es wurde unsere Bleibe für die nächsten Jahre.
    In dem Haus wohnte ein sympathisches, gebildetes Lehrer-Ehepaar, das im Ruhestand war, zusammen mit seiner Tochter Ljuba und dem Schwiegersohn Wolodja. Später kam ein Enkel hinzu. Sie vermieteten mir ein 11  Quadratmeter großes Zimmer – ein Drittel davon wurde von einem Ofen eingenommen. Aus den drei kleinen Fenstern blickte man auf einen alten verwilderten Garten. Allerdings ließen sich die Fenster kaum schließen, da sie stark verzogen waren. Unsere Möbel bestanden aus einem langen, schmalen Eisenbett, dessen Federung fast bis zum Boden durchhing. Das war unsere Einrichtung. Aber etwas Besseres ließ mein Geldbeutel nicht zu. Ich vereinbarte mit den Vermietern einen Preis von 25  Rubeln im Monat. Um Brennholz, Kohle und Petroleum mussten wir Mieter uns selbst kümmern. Als Tisch und Bücherschrank zugleich diente mir die Furnierholzkiste, die nach langer Zeit, aber wohlbehalten aus Moskau eintraf. Ich bastelte einen Kleiderständer. Und kurz vor Raissas Ankunft kaufte ich zwei Stühle. Damit war die Möblierung perfekt.
    Unsere Vermieter halfen uns auf alle erdenkliche Weise, damit wir uns in diesem Loch wohlfühlten. Aber sie konnten kaum etwas tun. Und obwohl uns das klar war, wussten wir ihr Entgegenkommen zu schätzen. Am Wochenende setzten wir uns manchmal zu ihnen an den Tisch und führten langwierige Gespräche über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das Familienoberhaupt Grigorij Wasiljewitsch, der alltags in der Regel nicht sonderlich gesprächig war, lebte nach ein paar Wodkagläsern sichtlich auf – und wies dann fast jedes Mal in nicht mehr nüchternem Zustand Raissa an, die Dinge »nüchtern« zu betrachten. Der Schwiegersohn Wolodja, ein Mitarbeiter der Regionalzeitung, und seine Frau Ljuba, eine Chemielehrerin, bekamen Krach. Wolodja war in betrunkenem Zustand einfach unerträglich: Er konnte aus Starrsinn Wände hochgehen. Unsere Vermieter schämten sich für ihren Schwiegersohn, aber wir hatten Verständnis. Im Nachbarhaus wohnte ein Stabskapitän, ein ehemaliger Weißgardist, hoch betagt, militärische Haltung, mit einem grauen gestutzten Schnurrbart und aristokratischen Manieren. Ein Kavalier vom Scheitel bis zur Sohle. Von Raissa war er völlig hingerissen. Sie erinnerte ihn wohl an seine Vergangenheit und frühere Hoffnungen.
    Unser erster Winter in Stawropol brach an. Das Zimmer war kalt. Von meinem Gehalt zu leben und den Vermieter zu zahlen, war sehr schwierig. Wir knauserten bis zu jedem nächsten Gehalt, um zumindest die dringendsten Probleme lösen zu können: warme Kleidung, Schuhe, Kohle für unseren gefräßigen Ofen.
    Die Unverfrorenheit, mit der die Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft der UDSSR mich behandelt hatten, die Gleichgültigkeit gegenüber meiner familiären Situation und die ganze Geschichte mit der Zuteilung meiner ersten

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