Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
ich von der Universität nach Stawropol kam, hatte es 127 000 Einwohner, nun waren es über 350 000 . Als optimal für eine Stadt gilt eine Einwohnerzahl unter 500 000 .
Auch im Leben meiner Familie änderte sich einiges. Wir zogen in eine geräumige Dreizimmerwohnung um, schafften uns moderne Möbel und einen Eisschrank an. Das frühere Leben hatten wir hinter uns gelassen. Irina erfreute uns mit ihren Erfolgen in der Schule. Sie war sehr wissbegierig und las viel. Wir hatten damals schon eine große Bibliothek zu Hause. Um den 22 . Parteitag herum subskribierte ich eine Geschichte der Welt in zehn Bänden, eine Ausgabe der Weltliteratur in zweihundert Bänden und eine Plechanow-Ausgabe in fünf Bänden.
Wir wollten unserer Tochter die Literatur nahebringen. Raissa und ich fanden, die Zeit sei reif dazu. Aber wir machten uns nur lächerlich. Als wir uns Irina vornahmen, stellte sich heraus, dass wir zu spät dran waren. Sie hörte uns zu und sagte: »Das hab ich alles schon gelesen.«
Irina hatte Tag und Nacht gelesen – auch wenn Raissa und ich schlafen gegangen waren, las sie noch weiter. Mit fünfzehn hatte sie die gesamte Belletristik unserer Bibliothek verschlungen.
Wir ließen sie in Ruhe. Sie sah unser Leben, das war der beste Lehrmeister, finde ich.
Aber auf einmal trübten sich meine Beziehungen mit Leonid Jefremow, dem Ersten Sekretär des Regionskomitees. Jemand hatte ihm die Information hinterbracht, ich telefoniere oft ohne besonderen Anlass mit dem Sekretär des ZK und Politbüromitglied Fjodor Kulakow. Er beauftragte daraufhin einen der Sekretäre des Regionalkomitees, zu klären, worum es in diesen Gesprächen ging und warum ich nicht darüber berichtete. Ich musste Jefremow sagen, ich hätte nichts zu berichten. Die Gespräche kämen auf Initiative von Kulakow zustande, hätten rein privaten Charakter und berührten die Probleme und Fragen der regionalen Parteiarbeit nicht und schon gar nicht Jefremows Arbeit. Diese Antwort machte ihn noch wütender. Aber so war es wirklich.
Während des Wahlkampfs um die Posten in den Parteiorganen verschlechterten sich unsere Beziehungen weiter. Ich äußerte mich im Büro des Regionskomitees kritisch zu einigen Kandidaten für die Posten der Sekretäre der Stadt- und Regionskomitees. Meine Bemerkungen beruhten auf der Kenntnis der Situation: Ich kannte alle gut und wusste, was in diesen Organisationen vor sich ging. Die Auseinandersetzung verschärfte sich. Jefremow sagte, ich nähme mir zu viel heraus. Sein Ton war grob, er brüllte fast in Gegenwart aller Büromitglieder. Ich erwiderte, ich könne das nicht auf mir sitzen lassen. Wenn der Sekretär des Regionskomitees und die Mitglieder des Büros meine Meinung nicht brauchten, sollten sie mich nicht zu den Sitzungen einladen und öffentlich demütigen.
Jefremow war verstimmt. Ihm war klar, dass er den Bogen überspannt hatte. So viele Jahre der Zusammenarbeit, und auf einmal waren unsere Beziehungen auf dem Nullpunkt. Ich wiederum dachte, ich sei wohl fehl am Platz, es brauche in der Parteiarbeit eben andere Qualitäten. Das war die Zeit unter Breschnew, die Kriecherei und Speichelleckerei hatte ungeahnte Ausmaße angenommen. Ich war zwar nicht undiplomatisch und unflexibel; aber in meiner Persönlichkeit angegriffen oder beleidigt zu werden, das ist mir immer gegen den Strich gegangen. Ich habe mir mein ganzes Leben Mühe gegeben, mich nicht dazu hinreißen zu lassen, Menschen zu demütigen, selbst dann nicht, wenn die Verhältnisse mich dazu zwangen, mich ihrer zu entledigen, weil sie schlecht arbeiteten.
Ich dachte über die entstandene Situation nach und beschloss, meine Arbeit an der Dissertation wieder aufzunehmen und die entsprechenden Prüfungen abzulegen. Mir schien die Wissenschaft aussichtsreicher. Da konnte ich meine Energie, Neugier und Leidenschaft, zu analysieren, zu meinem und zum Nutzen der Sache einbringen. Die – gesellschaftliche und materielle – Lage der diplomierten Lehrer, Dozenten und Professoren unterschied sich damals positiv von anderen Berufen, und zwar in jeder Hinsicht. Soweit das damals möglich war, hatten sie ein freieres Leben.
Andererseits bot mir auch der Posten des Ersten Sekretärs des Partei-Stadtkomitees eines Regionszentrums große Möglichkeiten, mich hervorzutun. Natürlich bedeutete die Kontrolle der oberen Parteiinstanzen über die Arbeit der Kader, die Planung, die Finanzierung, die zentralisiert zugeteilten Investitionsmittel eine Begrenzung der
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