Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
Freiheit. Überall machte sich das System bemerkbar, auf allen Gebieten, selbst bei Lappalien. Das stimmt. Trotzdem konnte man mit Initiative und Hartnäckigkeit eine Menge erreichen.
Meine Arbeit im Partei-Stadtkomitee fiel mit dem Beginn der sogenannten Kosygin [15] -Reform zusammen. Sie interessierte mich sehr, schien sie doch die Möglichkeit für einen neuen Führungsstil zu bieten, bei dem es nicht auf Befehle, sondern auf den ökonomischen Anreiz ankam, wobei sowohl die Interessen der Mitarbeiter als auch die der Betriebe berücksichtigt wurden. Es taten sich Möglichkeiten auf, den Gewinn für soziale Projekte einzusetzen, vor allen Dingen für die Beschaffung von Wohnraum. Trotz der chaotischen Organisation in der Anfangsphase fand die Reform leidenschaftliche Unterstützung.
Wir veranstalteten ein spezielles Plenum des Partei-Stadtkomitees, auf dem wir den Nutzen der Reform für die Ingenieure und technischen Fachkräfte debattierten. Umfragen wurden durchgeführt und viele Treffen anberaumt. Das Plenum stieß auf große Resonanz.
Schon wieder ein Zufall
Meine Arbeit als Erster Sekretär im Partei-Stadtkomitee endete überraschend. Wieder war es ein Zufall. An der obersten Spitze der Parteiführung der Region hatte es einen Skandal gegeben. Nikolaj Lyschin, Erster Sekretär des Gebietskomitees Karatschai-Tscherkessien (das autonome Gebiet Karatschai-Tscherkessien gehörte zur Region Stawropol), hatte seine Familie verlassen, indem er kurzentschlossen den Koffer packte und damit durch die ganze Stadt zu einer neuen Frau zog. Das Benehmen des Sekretärs empörte alle, man fand es unverfroren und provokant. Nach einer stürmischen Sitzung kam das Büro des Regionskomitees zu einer harten Entscheidung: Er wurde des Amtes enthoben.
Lyschin hatte gemeint, er könne die Mitglieder des Regionskomitees mit der Begründung, sein Privatleben sei zerrüttet, von der Richtigkeit seines Schrittes überzeugen. Doch seine Argumente hatten den gegenteiligen Effekt. Der Beschluss über seine Amtsenthebung war einhellig.
Damals machte eine Erzählung oder ein Witz die Runde: Im Büro eines der Partei-Gebietskomitees Leningrads wird das Benehmen eines leitenden Kommunisten diskutiert, der sich von seiner Frau scheiden lassen will. Begründung: Er liebe sie nicht mehr. Man sagt ihm unmissverständlich: »Wenn du das tust, bist du deine Parteimitgliedschaft los und wirst entlassen.« Trotzdem bleibt er dabei und sagt: »Ich liebe sie aber nicht. Versteht das doch!« Eines der Mitglieder des Regionskomitees empört sich: »Was wiederholst du in einer Tour: Ich liebe sie nicht, ich liebe sie nicht – meinst du, uns geht es anders?! Doch wir bleiben trotzdem!«
Für Lyschins Posten wurde Fjodor Burmistrow empfohlen, der bisher Zweiter Sekretär des Regionskomitees gewesen war. Man musste nur einen Nachfolger für ihn finden. Und das mitten im Sommer! Ich hatte schon für Raissa und mich Fahrkarten zur Erholung in Sotschi gekauft und musste in den nächsten Tagen losfahren, aber Jefremow hielt mich zurück. Grund: ein Leitungswechsel. Ich wartete einen Tag, zwei, drei. Dann ging ich zu Jefremow und beschwerte mich: »Meine Fahrkarten verfallen, lassen Sie mich fahren!« Schließlich redete ich offen mit ihm: »Ich bin mit Ihrem Kandidaten einverstanden, egal wer es ist. Lassen Sie mich morgen in Urlaub.«
»Du bekommst deinen Urlaub schon noch!«
Ein paar Jahre später erfuhr ich, dass Jefremow einen anderen Kandidaten durchbringen wollte. Aber im ZK der Partei war man der Meinung: Gorbatschow muss Zweiter Sekretär des Regionskomitees werden, denn er hat womöglich in Zukunft das Zeug zum Ersten Sekretär und damit zum künftigen Mitglied des ZK der KPDSU und Abgeordneten des Obersten Sowjets der UDSSR usw.
Am 5 . August 1968 wurde ich zum Zweiten Sekretär des Partei-Regionskomitees gewählt. Jefremow hielt eine »zündende Rede« zu meiner Unterstützung: Das ZK wolle eine Mischung aus erfahrenen und jungen Kadern.
Mein Urlaub war geplatzt. Jefremow überließ mir das Feld und ging in Urlaub, wir blieben allerdings in regelmäßigem telefonischem Kontakt. Am 21 . August marschierten die Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei ein. Aus dem ZK kam ein rotes Büchlein, in dem die Vorgänge in der Tschechoslowakei erklärt wurden. Laut dieser Darstellung hatten unsere politischen Gegner im Westen ein schwaches Glied unter den Ländern des Warschauer Paktes gesucht, und die Führer der befreundeten Staaten
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