Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
verdrießlichen Ton. Ich dachte, ich hätte ihn besser nicht auf seinen wunden Punkt ansprechen sollen. Es stimmte ja, in Moskau kursierten immer jede Menge Gerüchte.
Aber es verging nur wenig Zeit, da wurde Jefremow als Erster Vertreter des Vorsitzenden des Komitees für Wissenschaft und Technik der UDSSR bestätigt.
Im Folgenden möchte ich von den Recherchen im Stawropoler Land erzählen, die Raissa für ihre Dissertation anstellte. Eine interessante Geschichte. In der Sowjetunion gab es eine Reihe von Arbeiten zu Familie und Alltag der sowjetischen Bauernschaft. Von den 250 Millionen Einwohnern der UDSSR lebten damals über eine Million auf dem Land. Es war äußerst wichtig und interessant, von den Menschen selbst zu hören, wie ihre Stimmung und ihre Lebensbedingungen waren.
Raissa sammelte umfangreiches statistisches Material und führte etliche Interviews mit den Dorfbewohnern. Sie erinnerte sich später immer wieder an ihre Reisen mit dem Auto und Motorrad durch die Dörfer.
Viele Jahre beanspruchten die Forschungen von Raissas Lehrstuhl für das Buch mit dem großspurigen Namen
Die Kolchose: Schule des Kommunismus für die Bauernschaft
. Dieses Buch erschien schließlich in Moskau als Ausgabe der Zentrale. Aber natürlich beruhte der Inhalt auf der Arbeit vor Ort. Und dafür brauchte Raissa hin und wieder auch meine Unterstützung. Ihr persönlich hat diese Arbeit enorm viel gegeben: Sie kam unmittelbar mit dem Leben der Menschen auf dem Dorf in Berührung.
In zwei Siedlungen wurde eine umfassende soziologische Untersuchung durchgeführt: in der Kosakensiedlung Grigoripolis und in dem Dorf Otkasnoje – die eine im Osten, das andere im Westen des Stawropoler Landes.
Vor der Revolution hatte die Kosakensiedlung Grigoripolis 20 000 Einwohner. Nach dem Bürgerkrieg war die Einwohnerzahl fast auf die Hälfte gesunken. Ein Teil war bei den Kämpfen im Bürgerkrieg umgekommen, ein Teil war verhungert, ein Teil weggezogen. Ich möchte nun von zwei Begegnungen erzählen, auf die Raissa immer wieder zurückkam.
Gegen Ende ihrer Umfrage besuchte sie eine Frau, die allein lebte. Ihr Bräutigam war im Krieg umgekommen, und sie war allein geblieben. Diese Frau nahm Raissa sehr freundlich auf. Erst machte sie ihr etwas zu essen, dann erzählte sie von ihrem Leben. Als Raissa den Fragebogen ausgefüllt hatte und mit der Umfrage fertig war, erklärte die Frau: »Und jetzt stell ich dir Fragen.« Es begann das berühmte Interview, das Raissa in ihrem Buch
Ich hoffe
beschrieben hat:
»Töchterchen, was bist du so dünn?«
»Das ist doch normal …«
»Und einen Mann, den hast du wohl nicht?«
»Doch!«
Sie seufzt: »Trinkt er?«
»Nein …«
»Schlägt er dich?«
»Wie kommen Sie denn darauf?! Nein, ich habe einen guten Mann.«
»Du führst mich an der Nase herum! Ich habe ein ganzes Leben hinter mir und weiß: Wenn man es gut hat, zieht man nicht über die Höfe!«
Die Rollen hatten sich umgekehrt. Aus der Fragenden war die Befragte geworden. Die Frau hat Raissa sicher nicht geglaubt.
Raissa erzählte noch von der Unterhaltung mit einer Melkerin nach dem abendlichen Melken. Eine lebhafte, gescheite und tatkräftige Person. Sie gefiel Raissa sehr. Eine richtige Kosakin! Stattlich und nicht auf den Mund gefallen. Raissa war mit ihrem Interview an den Punkt gekommen: »Was verbindet Sie in Ihrer Familie, in Ihrer Ehe mit Ihrem Mann?« Es gab mehrere Vorschläge: Liebe, Freundschaft, Liebe zu den Kindern usw. Darunter auch folgenden: »Physische Anziehung«. Als sie zu diesem Vorschlag kamen, fragte die Frau: »Was ist das?«
Raissa fing an zu erklären: »Gemeint sind intime Beziehungen.«
Das erschwerte offenbar alles nur noch mehr.
»Zwischen Mann und Frau gibt es doch persönliche Beziehungen. Na gut …« – Raissa wollte das Gespräch schon beenden.
»Ach so, na klar: Wofür braucht man einen Mann denn sonst?«
Nicht weniger interessant war das Material, das Raissa über das Leben der Bauern in der vorrevolutionären Zeit zusammentrug, besonders was die Kosakensiedlungen und die Kosaken betraf. Man konnte Vergleiche ziehen. Unter dem Zaren hatten die Kosaken große Privilegien: Zuteilungen von Land, Pferden und Vieh. Die Kinder aus Kosakenfamilien wurden bei der Ausbildung bevorzugt. Aber die Gebräuche waren streng: Ein Kosake konnte keine auswärtige Frau heiraten. Wenn er dieses Verbot übertrat, wurde er aus der Gemeinschaft der Kosaken ausgeschlossen.
In den Akten der
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