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Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Titel: Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Gorbatschow
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waren dem mit dieser Aktion zuvorgekommen. Um nicht einen Frontalangriff gegen den Sozialismus führen zu müssen, versuchte unser Gegner, alle Möglichkeiten auszuschöpfen und eine innere Erosion der sozialistischen Länder herbeizuführen.
    Ich fand diese Behauptung nicht aus der Luft gegriffen. Aber der Einmarsch der Truppen in einen befreundeten »Bruderstaat« rief in unserem eigenen Land eine geteilte Reaktion hervor. Ich telefonierte mit Jefremow und beriet mich über die dringlichsten Schritte. Als erfahrener Leiter riet Jefremow zu einer umgehenden Einberufung des Büros, das einen Beschluss zur Unterstützung der Linie des ZK der KPDSU und seiner Führung verabschieden sollte. Ich war einverstanden, versammelte das Büro des Partei-Regionskomitees innerhalb von 24  Stunden und führte die Sitzung durch. Gleichzeitig gab es in Stawropol nicht wenige, die den Einmarsch verurteilten und ihn als unzulässige Einmischung in innere Angelegenheiten betrachteten. Aber es gab keine Massendemonstrationen.
    Die Parteikomitees ergriffen umgehend Maßnahmen. Schon bei einer der nächsten Bürositzungen diskutierten wir das Verhalten eines Journalisten und eines Philosophielehrers und bestraften sie streng wegen ihres »ideellen Fehlers«. Doch bald musste ich ernsthaft darüber nachdenken, wie weit ich mit meiner Einschätzung des »Prager Frühlings« recht gehabt hatte. Als ich 1969 selbst in der Tschechoslowakei war und die Einstellung der einfachen Leute zu der Aktion der fünf Länder sah, kamen mir Zweifel. Ich spürte zum ersten Mal, wie gekränkt unsere tschechischen und slowakischen Brüder waren. Ähnlich wie andere, die ich kannte, dämmerte mir, dass der Geist der Reformen, der in den fünfziger, sechziger Jahren erwacht war und in dem noch jetzt viel Kraft und Schwung steckte, dabei war, zu erlöschen. Breschnew musste zwischen den unterschiedlichen Gruppen im Politbüro lavieren. Er wusste seine konservative Haltung gut zu tarnen.
    In dieser Situation machte sich die Ablehnung der Neuerungen immer mehr in der Arbeit der lokalen Organe bemerkbar. In Stawropol zeigte sich das anschaulich am »Fall Barakow«, dem Leiter der Landwirtschaftsverwaltung des Georgijewskij-Bezirks.
    Innokentij Barakow war ein energischer, selbständiger Mann und leidenschaftlicher Anhänger des Reformwirtschaftlers Lisitschkin, mit dem er auch befreundet war. Hartnäckig setzte er sich ein für die Ideen der »Lockerung« des staatlichen Produktionsplans und erweiterte die Rechte der Kolchosen auf die Verwertung ihres Endprodukts, einschließlich des Rechts auf freien Verkauf. Als Barakow diese Ideen in die Tat umsetzte, wurde er zunächst vom Büro des Regionskomitees gewarnt, dann »grober Fehler in prinzipiellen politischen Fragen« beschuldigt und seines Amtes enthoben. Barakow kämpfte gegen Windmühlen. Letztlich griff er das System an, und dem konnte man nicht so einfach zu Leibe rücken.
    Einige Zeit darauf griff das Büro des Regionskomitees die schweren Fehler in dem Buch von Sadykow an, einem Dozenten des Lehrstuhls für Philosophie des Stawropoler Landwirtschaftsinstituts. Das Buch war Ausdruck der Hoffnungen, die die Reformen Chruschtschows und zum Teil auch Kosygins genährt hatten. Sadykow formulierte eine Reihe von Ideen, die erst mit dem Beginn der Perestrojka wieder aufkamen. Doch bis dahin waren es noch fünfzehn Jahre. Damals wurde das als »Aufruhr« gewertet.
    Aus Moskau kam das Signal, wir sollten uns den Autor »vorknöpfen«. Es fand eine Sitzung des Büros des Regionskomitees statt, bei der Sadykow nicht einfach kritisiert, sondern an den Pranger gestellt wurde. Eine Standpauke nach allen Regeln der Kunst. Auch ich kritisierte ihn heftig. Und obwohl er nicht aus der Partei ausgeschlossen wurde – Jefremow und ich waren dagegen, aber es gab auch andere Meinungen –, wurde ihm die Leitung des Lehrstuhls entzogen, und er verließ Stawropol.
    Man konnte zusehen, wie der Reformgeist schwand. Nicht nur im Parteimilieu, sondern in der ganzen Gesellschaft herrschte wieder die Angst, etwas Falsches zu sagen oder zu tun.
    Einmal war ich dienstlich in Moskau. Man hatte mir im Vertrauen gesagt, es werde über Jefremows Versetzung nach Moskau verhandelt. Als ich nach Stawropol zurückkehrte, fragte ich Leonid Nikolajewitsch: »Sie wollen uns verlassen?«
    Jefremow antwortete erstaunt: »Wie kommst du denn darauf?«
    »Ich habe es in Moskau gehört.«
    »In Moskau erzählt man so einiges.«
    Er sagte das in einem

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