Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
niemand Angst, so viel ist sicher. Das gilt sowohl für Kobson als auch für den Saal. Zweitens möchte ich jetzt etwas sagen.«
Ich ging auf die Bühne und nahm mir das Mikrofon von Kobson, der es mir übrigens nicht geben wollte. Er ist ja nicht auf den Kopf gefallen, er spürte, dass Gorbatschow ihm jetzt den Abend hätte verderben können. Aber das hatte ich natürlich nicht vor. Ich sagte ins Mikrofon: »Ich schließe mich den Glückwünschen an, die hier vorgebracht wurden. Ich möchte zu all dem, was gesagt wurde, hinzufügen: Ich gratuliere dir, Josif, und möchte meinen großen Dank zum Ausdruck bringen für das, was du geleistet hast und noch leisten wirst. Das ist wirklich eine Heldentat, und alle Menschen, das ganze Land weiß das zu schätzen. Ich möchte dir aber noch eins sagen: Erinnerst du dich an den Film
Iwan Wasiljewitsch wechselt den Beruf
? In diesem Sinne möchte ich dich bitten: Wechsel deinen Beruf nicht.« (Es gab damals in Moskau Gerüchte, Kobson wolle ins Business gehen.)
Man merkte, dass er nervös wurde, aber er sagte nichts.
»Ich möchte noch von deiner Kunst sprechen, die Menschen zusammenzubringen. Luschkow, der hier geredet hat, und ich zum Beispiel, wir begegnen uns jetzt selten, nur bei offiziellen Gelegenheiten. Aber hier feiern wir zusammen deine Triumphe. In der letzten Zeit kommunizieren wir über die Gerichte. Schon dreimal hat das Moskauer Bürgermeisteramt mich angeklagt ob meiner kritischen Aussagen, insbesondere zur Korruption in Moskau. In allen Fällen habe ich verloren. Auch im letzten. Aber das ist ja klar: Es gibt eben keine Korruption in Moskau!«
Der Saal schwieg. Luschkow reagierte ironisch auf meine Worte: »Wir brauchen kein Geld. In Moskau müssen viele Probleme gelöst werden.« [17]
Josif wollte das Thema wechseln und wandte sich an mich: »Michail Sergejewitsch! Ich möchte Ihnen einen Blumenstrauß überreichen.«
»Ich gebe ihn Raissa Maximowna, danke.«
Nicht jeder kann das aushalten, was Raissa und ich in den letzten Jahren auszustehen hatten. Ich kann mir nur eins nicht verzeihen: dass ich es nicht geschafft habe, den mir liebsten Menschen zu bewahren und das Unglück abzuwenden …
Dringender Anruf
Auf einmal rief Irina aus der Münsteraner Klinik an: »Mutter bittet, du möchtest früher kommen.« Ich sorgte mich, dass womöglich wieder etwas passiert sei und sie es mir als Erstem sagen wollte. So war es immer in unserem Leben. Ich packte schnell meine Sachen und fuhr in die Klinik. Sobald wir allein waren, sagte Raissa: »Ich möchte, dass wir uns öfter sehen und uns unterhalten.« Das alarmierte mich. Ihr Wunsch sprach dafür, dass sie ungute Vorahnungen hatte.
So begannen meine Gespräche mir ihr über das Leben. Wir erinnerten uns an unsere ersten Begegnungen in der Universität und im Studentenheim in der Stromynka-Straße. Wir erinnerten uns, wie wir zum Zug nach Moskau gebracht wurden: sie in Sterlitamat, ich in Priwolnoje. Sie reiste mit einem Holzkoffer, der halbvoll mit Lebensmitteln war, in der anderen Hälfte befanden sich ihre »Reichtümer«. Der Koffer war schwer und fast so groß wie Raissa. Mich brachte mein Vater auf den Weg, meine Ausstattung sah so ähnlich aus wie Raissas; es gab nur einen kleinen Unterschied: Fast der ganze Koffer war voll mit Lebensmitteln.
Wir erinnerten uns an unsere Zugreisen, mit dem Flugzeug flog damals ja fast noch niemand. Die besten Plätze in den Zügen waren die in den platzkartenpflichtigen Wagen, aber meistens fuhren wir in den einfacheren. Auf den unendlich langen Bahnfahrten durch Russland passierte immer etwas – jede Menge Geschichten. Wir waren damals zum ersten Mal Teil einer riesigen, in Bewegung begriffenen Welt.
Einmal fragte sie: »Weißt du noch, wie du mich zum ersten Mal geküsst hast?«
»Ja, wie soll man das vergessen? Obwohl ich sagen muss, ich tat es mit großer Verspätung. Wer ist daran schuld?«
»Du natürlich«, sagte Raissa und lachte.
Das war so. Wir gingen oft in den Sokolniki-Park (das war schon 1952 ), um spazieren zu gehen und Eis zu essen. An jenem Abend hatten wir irgendwie keine Lust, den Park zu verlassen. Der Tag war schwül, das weiß ich noch gut. Plötzlich zogen Wolken auf, es wurde dunkel. Die Menschen liefen zum Ausgang des Parks. Im Park gab es die Hirschteiche. Ich schlug vor: »Komm, wir nehmen ein Bad!«
»Das geht doch nicht!«
Aber es war schwül, das gab den Ausschlag. Wir zogen uns aus und schwammen los. Es vergingen keine zehn
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