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Allmachtsdackel

Allmachtsdackel

Titel: Allmachtsdackel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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dünnen Seiten raschelten. Er las aus Hiob: »Ich hatte einen Bund gemacht mit meinen Augen, dass ich nicht lüstern blickte auf eine Jungfrau. Bin ich gewandelt in Falschheit, oder ist mein Fuß geeilt zum Betrug? Gott möge mich wiegen auf rechter Waage, so wird er erkennen meine Unschuld.«
    Schon in meiner Kindheit hatte das Silbenrauschen der Bibel mein Denken beflügelt. Auf einmal wusste ich, was mir an der Leiche nicht gefiel. Martinus Weber hätte nicht im Schlafanzug stecken oder der Arzt hätte sein Kreuzchen nicht bei »natürlicher Tod« machen dürfen.
    Frischlin klappte die Bibel zu und forderte die Anwesenden auf, ein persönliches Wort an den Dahingeschiedenen zu richten.
    »Was soll ich jetzt noch sagen, wo du tot bist?«, stotterte Lotte. »Du warst immer so streng mit dir selbst und mit den deinen, die wir nicht so stark waren wie du.« Sie schluchzte.
    Dass mir keine Träne auf den Toten fällt!, dachte ich. Sonst kehrte er als Wiedergänger zurück. Ich bekreuzigte mich hurtig, was mir scheele Blicke aus der Mädchenriege eintrug. Aber solche Reflexe saßen tief, auch der, mich im eingespielten Lauf fremder Rituale als Außenseiterin zu outen. Der vor allem!
    »Und Sie«, wandte sich Pfarrer Frischlin unvermittelt an Richard, »möchten Sie Ihrem Vater nicht auch etwas mit auf den Weg geben? Etwas, wo Sie von ihm lernen durften. Aber auch, was offen geblieben ist. Auch dazu ist jetzt Raum.«
    Man drehte sich um, reckte die Köpfe.
    Richard musterte den Pfarrer mit asymmetrischen Augen. »Danke«, sagte er, »aber mein Vater hört mich nicht mehr.«
    Frischlins Bart kräuselte sich in den Mundwinkeln. »Dann sprechen wir jetzt das Vaterunser.«
    Alles ging im Gemurmel von »Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern« unter. Ich hatte vierzehn Jahre alt werden und Hunderte Male das Vaterunser aufsagen müssen, bevor sich mir das Rätsel des Wortes »Schuldigern« löste.
    »… und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.«
    »Amen.«
    Frischlin hob die Hand, um auch über uns den Segen zu sprechen. Ich räusperte mich. Alle blickten mich an.
    »Sie möchten dem Verstorbenen noch etwas sagen?«, erkundigte sich Frischlin. Seine gotteslüsternen Augen glänzten mich an. »Sie sind …?«
    »Lisa Nerz.«
    Barbara wandte den Kopf, zog das Kinn an und lagerte ihren Blick auf mir ab.
    »… Lisa«, fuhr der Pfarrer fort. »Sie möchten dem Verstorbenen noch etwas mit auf den Weg geben?«
    Augen blitzten in Augenwinkeln. Ich schaute mich lieber nicht nach Richard um. Er wäre jetzt vermutlich gerne im Boden versunken, allerdings nicht ohne mich vorher auf den Mond geschossen zu haben.
    »Ich frage mich«, sagte ich, »woran Martinus Weber so plötzlich und unerwartet gestorben ist.«
    Stille.
    »An Herzversagen«, ließ Barbara ihre tiefe Stimme in die Stille fallen.
    »Jeder stirbt letztlich an Herzversagen.«
    »Ach, was du nicht sagst!«
    Unsere Blicke verhedderten sich und fuhren wieder auseinander.
    »Ich bitte euch!«, rief Frischlin. »Dies ist eine Aussegnung, keine polizeiliche Ermittlung.«
    »Außerdem«, ließ Richard sich vernehmen, »können wir uns alle Mutmaßungen sparen. Vor einer Feuerbestattung wird der Leichnam stets noch einmal von einem unabhängigen Arzt untersucht.«
    Ein Ruck ging durch die Gesellschaft. Aber ich konnte nicht erkennen, wo er seinen Ausgang nahm. Vielleicht hatten auch nur die Kerzen geflackert.
    »Martinus war doch herzkrank!«, fuhr Lotte auf. »Und einen zu hohen Blutdruck hatte er sowieso. Er hat sich ja auch über alles aufgeregt. Wenn ich es nicht tue, tut es keiner, hat er immer gesagt. Und die Sache mit den Bauplänen für den Fürsten, die hat ihm den Rest gegeben. Jahrelang Baulärm und Dreck. Wer soll denn das aushalten?«
    »Es ist doch noch gar nichts geschwätzt«, warf Barbara mit Bruststimme ein. »Der Ortschaftsrat hat die Baupläne für den Fürsten lediglich in den Etat fürs kommende Jahr aufgenommen. Zunächst wird es eine Umweltverträglichkeitsprüfung geben. Den Baubeginn hätte Martinus sowieso nicht mehr erlebt. Er hat doch nur aus Prinzip Klage gegen alles geführt, was Stadt, Gemeinde und Ortschaftsrat geplant haben, nur weil er selbst nicht in den Gemeinderat gewählt wurde.«
    »Bitte!«, rief Frischlin und hob die Hände. »Ich bitte euch! Das Totenreich ist aufgedeckt vor uns, und der Abgrund hat keine

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