Allmachtsdackel
Essen. Da kann einem der Appetit schon vergehen!«
Richard blickte etwas verwundert hoch.
»Hinter dir.«
Er drehte sich um. »Ja, das ist vom Meister von Meßkirch, Joseph Weiß, auch Maler von Balingen genannt. Renaissance. Eine sehr schöne Kopie. In der Mitte der Erzengel Michael mit der Seelenwaage. Rechts die Hölle, links der Himmel. Auf der linken Waagschale liegen die guten Taten, rechts die bösen, und wenn die bösen mehr wiegen, verfällt der Mensch der Hölle.«
Daneben hing das Abbild eines ägyptischen Hieroglyphenfrieses.
»Das Totengericht. Den Vorsitz führt der schakalköpfige Anubis mit seiner Balkenwaage. Links liegt das Menschenherz, rechts die Feder von Ma’at, der Göttin der Rechtspflege. Das Herz muss leichter sein als die Feder, um dem Rachen der krokodilköpfigen Bestie zu entgehen.«
Sein Blick sprang an die Wand hinter mich.
Ich drehte mich um. Hinter mir hing ein Kunstdruck des Ölschinkens von Rembrandt mit dem Menetekel.
»Das Gastmahl des Belsazar«, sagte er und senkte den Blick auf sein zerstochertes Essen. »Gewogen und zu leicht befunden.«
»Was?«
»Das hat mein Vater immer gesagt, wenn er mich während des Essens zur Strafe für ein Vergehen dort in die Ecke stellte.«
»Wo ist die nächste Bibel?«
Richard blickte mich gequält an.
Ich ließ das Besteck aufs Schuppenmuster klirren, lief nach oben und nahm die seit Jahrzehnten nicht mehr bewegte Bibel aus dem Regal in Richards Selbstmordzimmer. Vermutlich lag auf ihr ein Fluch und ich hatte jetzt tödliche Fallbeilmechanismen ausgelöst. Doch unbehelligt gelangte ich zurück ins Esszimmer.
Im Kopf ratterte ich die Eselsbrücke herunter und blätterte dabei. »In des alten Bundes Schriften merke an der ersten Stell: Mose, Josua und Richter, Ruth und zwei von Samuel. Zwei der Könige, Chronik, Esra, Nehemia, Ester mit. Hiob, Psalter, dann die Sprüche, Prediger und Hoheslied. Drauf Jesaja, Jeremia und Hesekiel, Daniel …« Da war’s.
König Nebukadnezar hatte einen Traum von einem Baum, der zerstört wurde. Er rief den Propheten Daniel zur Traumdeutung herbei und erfuhr, dass sein Königreich ihm wie der Baum zerstört werden und er sieben Jahre lang wie ein Tier leben würde, bis er endlich Gottes unumstrittene Macht anerkannte. Dann feierte sein Sohn Belsazar sein Gastmahl. Plötzlich erschien eine Hand und schrieb Unleserliches, aber Bedrohliches an die Wand.
Rembrandt hatte dafür hebräische Buchstaben genommen.
Und wieder wurde Daniel geholt, damit er das Ereignis erklärte. Daniel berichtete dem Sohn vom Vater Nebukadnezar und was ihm zugestoßen war: »Als sich aber sein Herz überhob und er stolz und hochmütig wurde, da wurde er vom königlichen Thron gestoßen und verlor seine Ehre. Und sein Herz wurde gleich dem Tier, und er musste bei dem Wild hausen und fraß Gras wie die Rinder …«
»Tja«, sagte Richard. »In der Bibel steht immer schon alles. Sie kommt uns immer zuvor.«
»›Aber du, Belsazar, sein Sohn‹«, las ich weiter vor, ›»hast dein Herz nicht gedemütigt, obwohl du das alles wusstest. Darum wurde diese Hand gesandt und diese Schrift geschrieben: Mene mene tekel u-parsin. Mene, das ist, Gott hat dein Königtum gezählt und beendet. Tekel, das ist, man hat dich auf der Waage gewogen und zu leicht befunden. Peres, das ist, dein Reich wird geteilt.‹«
Richard schob den Teller weg und zündete sich eine Zigarette an. »Wenn Frischlin meinen Vater wirklich gekannt hätte, hätte er heute über Nebukadnezar gepredigt. Wie Nebukadnezar hat mein Vater eine goldene Statue von sich erbauen und jeden töten lassen, der nicht davor niederkniete. Mich zumindest hat er jeden Tagetötetet. Erst zu Pfingsten hat er mir in einem Anfall von Rührseligkeit erklärt, er habe gleich Nebukadnezar für seinen Hochmut gebüßt und sieben Jahre lang Gras gefressen mit den Rindern. Er bezog sich damit, so habe ich ihn verstanden, auf die Krise der Firma in den Achtzigern, aus der er sie nicht hat herausführen können. Übrigens, die Urbedeutung von Mene tekel u-parsin ist unklar. Daniel hat einfach ähnlich klingende aramäische Wörter interpretiert: Gezählt, gewogen, geteilt.«
»Weißt du was?« Ich stand auf. »Dann ist Nebukadnezar das Passwort für den Computer deines Vaters!«
Richard folgte mir ins Arbeitszimmer. Ich tippte die Maus an, und der Computerbildschirm erwachte wieder zum Leben. Aber es war Richard, der den Stuhl ergatterte. Er klemmte die Zigarette in den Aschenbecher und
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