Allmachtsdackel
haben. Schneller, gewalttätiger und chaotischer. Und dann kramen wir in Aktenordnern und finden Naziorden, Ariernachweise und Listen geretteter Juden. Und hätten wir davon gewusst, dann hätten wir unsere Väter zu Lebzeiten vielleicht weniger verachtet.«
»Deine Mutter ist keine Giftmörderin!«, sagte ich.
»Ich weiß.« Er fuhr sich durch die Haare. »Hoffentlich haben sie ihr nicht den Gürtel abgenommen. Sie ist so dünn. Sie würde ihren Rock verlieren.«
»Bitte geh was kochen. Bitte!«
Er nickte und fand beim zweiten Versuch unfallfrei aus dem Arbeitszimmer. Cipión folgte ihm hoffnungsfroh.
Ich stellte den Computer an. Während er routete und bootete, sammelte ich die Aktenordner vom Boden auf und stellte sie aufs Sideboard. Martinus hatte eigentlich nicht viel archiviert für ein so langes Leben. Ein gutes Dutzend Ordner. Versicherungen, Krankenkasse, Steuererklärungen, Handwerkerrechnungen, Nebenkostenabrechnungen für ein vermietetes Haus, Kontoauszüge. Auf seinem Konto standen 3467 Euro. Wenig. Sein Sparbuch belief sich auf kümmerliche 34 000 Euro. Viel war nicht übrig geblieben. Eine Lebensversicherung zahlte ihm 2100 Euro Rente. 900 Euro waren als Mieteinnahmen von Frau Mauthe verbucht. Eine zweite Lebensversicherung belief sich auf 150 000 Euro im Todesfall. Immerhin war damit Lottes Zahlungsfähigkeit gesichert.
In zwei Ordnern hatte Martinus Zeitungsartikel gesammelt. Vor allem Artikel über ihn und seine Firma. Es war immer wieder dasselbe Foto, das die Redaktionen in die Spalten geflickt hatten, das Bild eines Mannes von Mitte sechzig mit gefurchter Stirn und glattrasierten kräftigen Kiefern. Sein Blick war dem Richards in keiner Weise ähnlich, weder karriereaggressiv noch besonders wach oder intelligent. Die Falten um seine Augen schufen die Gloriole partriarchaler Würde und Unanfechtbarkeit. Ein Moses ohne Bart.
In zwei Ordnern hatte Martinus seine Gerichtsprozesse dokumentiert und Zeitungsartikel darüber gesammelt. Prozesse gegen den Ortsrat, den Gemeinderat, gegen Straßen, Brücken, Spielplätze. Die meisten hatte er verloren.
Die Zeitungsausschnitte hatte er der Einfachheit halber stets auf DIN-A4-Format zurechtgeschnitten, gelocht und abgeheftet. Manchmal musste ich regelrecht suchen, bis ich auf den Fünfzeiler stieß, den er hatte aufheben wollen. »Ortsrat von Frommern plant Bebauung des Fürsten«. Daneben der Polizeibericht über den grausigen Fund einer in Gülle aufgelösten Leiche in Roßwangen vor fünf Jahren. Ein Foto zeigte einen lächelnden Jungen namens Marvin S. mit blonden Haaren und hellen Augen.
Warum war Martinus eigentlich der Meinung gewesen, dass dieser Junge, genauso wie der im Häcksler und im Siloballen, ermordet worden war? Hatte er konkrete Hinweise besessen, gar einen Täter gekannt und deshalb die Eltern überredet, an den Generalstaatsanwalt zu schreiben? Und wieso dachte ich jetzt an Vicky? 1997, beim Häckslermord, wäre er schätzungsweise vierzehn Jahre alt gewesen. Vielleicht sollte ich Barbara wünschen, dass er starb. Gegen Tote wurde nicht ermittelt, schon gar nicht, wenn der Ankläger fehlte, nämlich Martinus.
Auf dem Bildschirm war inzwischen die Passwortmaske aufgezogen. Ich tippte Moses ein. Falsches Passwort. Ich versuchte es mit den Namen Victor, Barbara, Maximiliane, Jacqueline, Jürgen und Richard, wenn auch ohne jegliche Hoffnung. Ich machte die vier Evangelisten durch und tippte Paulus und Saulus, Hiob, sämtliche Erzengel, die mir einfielen, sogar Maria und Josef. Rocky und Bullwinkle verwarf ich im Voraus, versuchte sie aber trotzdem.
In der Messingschale des altmodischen Tinten- und Federsets lagen herrenlose Schlüssel. Ich tippte Schlüssel und Schloss, auch in alter Schreibweise, Schloß. Die Neigungswaage mit dem alten Pfund vor der Umskalierung fiel mir ins Auge. Aber das Alte und Neue Testament und Philipp Matthäus Hahn ergaben auch nichts.
Gut, dass Richard endlich zum Essen rief.
Er hatte Putengeschnetzeltes mit Wacholdersahnesoße und Pfifferlingen gemacht. Dazu Reis. Gedeckt hatte er auf dem lackglänzenden Nussbaumtisch im Esszimmer mit dem Schuppenmuster aus der Ludwigsburger Porzellanmanufaktur, auf dessen schneeweißem Riffelrelief die Lichter des Kronleuchters das große Ballett tanzten. Dazu das schwere Silberbesteck mit dem geometrisch gestuften Stielzuschnitt aus den Vierzigern.
»Hm! Lecker«, sagte ich.
Richard stocherte nur.
Ich musterte die Bilder an den Wänden. »Das Jüngste Gericht zum
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