Allmählich wird es Tag: Roman (German Edition)
Wie er die coolen Tätowierten hinter der Theke grüßen würde. Sich im Vorbeigehen einen Kaffee eingießen, im Büro eine Zigarette anstecken, Musik aufdrehen und anfangen würde zu arbeiten. Natürlich würde er weniger verdienen. Das war egal. Es würde reichen. Vielleicht würde er sogar das Haus halten können.
Zum ersten Mal schöpfte er Hoffnung.
15
Das Restaurant war gut besucht. Sie saßen an einem Ecktisch. Burgunderrote Sitzbank. Glänzendes Leder. Ein Klassiker. Ein für L.A. untypisches Lokal. Dunkel, hohe Decken, Laminat. Europäisches Flair. Statt der sonst jungen, blonden Bedienungen alte Herren mit weißen Schürzen. Murmeln, Lachen, rufende Kellner, Gespräche perlten von den gekachelten Wänden. Einige Familien mit Kindern, Paare, ältere Leute. Die Atmosphäre war lebendig.
Es war richtig gewesen, das Haus zu verlassen, dachte Tim. Musso & Frank’s war perfekt. Tim mochte italienische Küche.
Ihre Hochzeitsreise war nach Venedig gegangen. Fünf Tage lang ein kleines lautes Hotel in der Nähe des Canale Grande. Sie hatten jeden Abend Pasta und Risotto gegessen und Wein dazu getrunken. Nie wieder hatte er später noch einmal so viel Romantik verspürt. Sie hatten danach oft von einem Häuschen in Italien geträumt. Vielleicht, wenn sie alt waren. Nach der Rückkehr waren sie zwei Jahre lang nur zum Italiener essen gegangen.
Das war lange her.
Als der Kellner die dampfenden Nudeln vor ihnen abstellte, hatten sie bereits zwei Flaschen Rotwein geleert. Larry hatte auf Poliziano bestanden. Sein Gesicht war wieder gerötet. Anstelle des Verbands klebte jetzt ein riesiges Pflaster auf seiner Hand.
Er hob schon wieder das Glas: »Auf das Leben, mein Fraynd!« Ein dicker Spritzer Tomatensoße hing an seinem Kinn. »Weißt du, am Ende habe ich Michelle nichts mehr erzählt. Ich war zwei Tage im Krankenhaus, weil sie mir die Nierensteine rausgenommen haben. Zwei Tage. Ich hab ihr erzählt, ich muss nach Nevada zu einer Hochzeit.« Seine vollen Backen bewegten sich beim Sprechen auf und ab. » Zwei Tage hatte ich im Krankenhaus meine Ruhe!«
Tim wartete auf den Clou, aber die Story hatte keinen. Warum verheimlichte Larry Michelle seine Nierensteine? Eine traurige Vorstellung.
Er schaufelte Parmesan nach. Leerte sein Glas. Der Alkohol war ihm ungewohnt schnell zu Kopf gestiegen. Sein Gesicht war entspannt. Der Kopf leichter als sonst. Er fühlte so etwas wie Heiterkeit. Verdammt, Musso & Frank’s war gut.
Italien. Das wäre es. Mit glasigem Blick sah er lächelnd ins Nichts. Noch einmal nach Venedig. Rom. Wein trinken und Pasta essen.
Aber er müsste alleine dorthin reisen.
»… danach war ich völlig erholt, sag ich dir. Zwei Tage nur für mich!« Larry fuhr mit seiner Anekdote fort. Vielleicht gab es ja doch eine Pointe.
Plötzlich verspürte Tim Lust, Larrys blöder Nierensteingeschichte etwas entgegenzusetzen. »Mir hat unsere Rezeptionistin mal auf der Weihnachtsfeier einen geblasen.« Er sagte es so beiläufig wie möglich.
Larry lachte, Tim konnte Nudeln und Soße in seinem Mund sehen. »Das glaube ich nicht!«
Was sollte so unglaublich daran sein, dass ihm die Rezeptionistin einen blies? Er bereute es, Larry davon erzählt zu haben.
»Und dann?« Larry klang amüsiert. Wartete auf Details. Aufgekratzt rutschte er auf der Lederbank hin und her.
Wie genau er mit Cynthia Sheldon in der engen Toilettenkabine gelandet war, daran erinnerte Tim sich nicht mehr. Er hatte sich an dem Abend darauf eingelassen, Schnäpse zu trinken. Hatte sich überschätzt. Dann Cynthias erhitztes Gesicht an seinem Schritt. Schwer atmend hatte sie den Reißverschluss der grauen Anzughose geöffnet. Er sah nicht hin, lehnte sich schwer gegen die Wand der Kabine, bis es vorbei war.
Er hatte ein Taxi nehmen müssen, so betrunken war er gewesen. Hatte sich geduscht und zur schlafenden Liz ins Bett gelegt.
Am nächsten Morgen zwei Tylenole. Über den Vorfall hatte er nicht weiter nachgedacht. Erst als er Cynthia Sheldon im neuen Jahr wiedergesehen hatte, als sie mit knallrotem Gesicht in ihrem hellgrauen Twinset an der Rezeption saß und versuchte, sich hinter dem Tresen zu verstecken, war es ihm wieder eingefallen.
Er hatte kein schlechtes Gewissen gehabt. Daran erinnerte er sich noch. Dass er erstaunt festgestellt hatte, dass er kein schlechtes Gewissen besaß. Hatte er Liz betrogen? Nicht wirklich. Ein Ausrutscher.
»Habt ihr’s wieder getan?«
Larrys Neugier nervte.
»Nee. Ist ewig her.«
Enttäuscht
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