Allmählich wird es Tag: Roman (German Edition)
Schritte wurden schneller. Bald rannte er orientierungslos über den harten Sand. Ab und zu tauchte Sues Gesicht aus dem Regen auf. Ihr Lachen, Wellenrauschen, Wind und Donner mischten sich zu einer berauschenden Kakofonie.
Keuchend blieb er irgendwann stehen. Hielt Sue am Arm fest. »Und was jetzt?«, fragte er sie atemlos, triefend.
»Jetzt sind wir nass!« Lachend küsste sie ihn auf das Kinn.
Er fand ein Handtuch auf dem Rücksitz, das nach dem Golfen dort liegen geblieben war. Sie rubbelte sein Haar, rieb sich ihr Gesicht trocken.
»Ich weiß, wo wir eine heiße Schokolade bekommen können. Hast du Lust?«
Die Scheiben waren beschlagen. Es donnerte heftig. Irgendwo hinter der grauen Wand zuckten Blitze.
»Klar.«
Er wendete den Wagen. Sie zeigte nach rechts. »Da lang.«
Fünf Minuten später nahmen sie die Abfahrt Price Canyon Road. Eine Weile fuhren sie landeinwärts. Blitz und Donner ließen die Landschaft unwirklich und fremd erscheinen. Wohin führte sie ihn?
Irgendwann wies sie auf eine Abzweigung. Einige kleine Häuser tauchten vor ihnen auf. Verwitterte Fronten, ungepflegte Vorgärten, in grauen Regen getaucht.
Tim fuhr langsamer. Fühlte sich unvermittelt an seine Kindheit erinnert.
»Wir sind da!« Strahlend zeigte sie auf ein kleines grünes Haus mit Schaukelstuhl auf der Veranda.
Kaum hatte er in der Einfahrt geparkt, sprang sie aus dem Auto.
Er fuhr sich durchs Haar, wollte lieber im Auto sitzen bleiben.
Aber Sue wartete ungeduldig unter dem tropfenden Vordach auf ihn. Winkte. Als er bei ihr war, fühlte er sich fremd.
»Wer wohnt hier?«
Sie klingelte dreimal.
»Meine Oma.«
6
Tim stand hinter Sue. Dicke Tropfen klatschten vom Vordach in seinen Nacken. Wie schon am Strand rann Wasser seinen Rücken hinunter. Unangenehm diesmal.
Der verdammte Regen!
Er hätte Sue beim Dune Buggy fahren zugesehen, und danach hätten sie ein Eis gegessen. Dann hätte er ihr gesagt, dass er einen Anruf vom Revier bekommen hätte und nicht bleiben könne.
Langsam öffnete sich die Tür. Ein kleines, faltiges Gesicht schob sich in den Türspalt.
»Granny! Überraschung!« Sues Locken wippten, sie lachte über das ganze Gesicht.
Eine kleine, bucklige Frau erschien im Türrahmen. »Du bist ja ganz nass, Schätzchen!« Ihr Lachen klang zart und kraftlos. Das ondulierte Haar zitterte. Sie hielt sich mit einer Hand am Türrahmen fest.
Tim stand unschlüssig da. Er spürte ein Ziehen in den Schläfen. Kopfschmerz. Seine linke Hand suchte den Handballen der rechten. Drückte zu. Das half manchmal.
Sue zog ihn am Arm zu sich.
»Granny, das ist ein Freund von mir. Jonny, das ist meine Granny.« Mit zusammengekniffenen Augen sah die alte Frau zu ihm auf.
Artig schüttelte er ihre Hand. Bemüht, nicht zu fest zuzudrücken.
»Na, ihr habt ja ein Wetter mitgebracht. Kommt rein.« Sie trug Filzpantoffeln, Seidenbluse und Wollrock, darunter dicke Strümpfe.
Sie traten in einen schmalen, dunklen Flur. Tims Schulter streifte einige Jacken, die an einem Kleiderhaken hingen.
Es roch nach Hundefutter. »Hol deinem Freund hier mal ein trockenes Hemd. Im Schrank sind noch ein paar von Granddad.«
Tim spürte Sues Hand.
»Ist das okay?«, fragte sie.
»Alles okay!« Er bemühte sich um ein Lächeln.
Ein fetter Dackel trottete ihnen entgegen. Statt zu bellen, gab er hustende Laute von sich.
»Hallo Esther!« Sue streichelte das graue Fell des Hundes.
»Esther ist schon zwölf Jahre alt!«
»Fast dreizehn …«, sagte Granny, ohne sich umzudrehen. Sue verschwand in einem Zimmer. Eine Tür knarrte.
Tim presste wieder den Handballen seiner Rechten. Die feuchte Hose begann, an seinen Beinen zu jucken.
Granny war ins Wohnzimmer gegangen. Der Dackel Esther beobachtete ihn. Unschlüssig blieb er im Flur stehen. Schaute sich um. Das Haus war klein. Dunkel. Überall hingen düstere Ölgemälde, die europäische Berglandschaften zeigten. Vielleicht Österreich oder die Schweiz.
Schließlich kam Sue mit einem rot karierten Flanellhemd zurück. Sie hatte sich das trockene »Survivor«-Sweatshirt übergezogen.
»Bad ist dahinten!« Munter stieß sie ihn in die Seite.
Im Türrahmen musste er den Kopf einziehen.
Das Bad war apricotfarben gekachelt. Eine Toilettenrolle steckte in einem gehäkelten Etwas. Kleine verzierte Handtücher. Zum Glück ein frisches Stück Seife.
Er sah sich im Spiegel an. Das Hemd roch nach alten Socken. Er ging davon aus, dass es Granddad nicht mehr gab. Das Hemd war zu kurz, die Ärmel
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