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Allmen und die verschwundene María

Allmen und die verschwundene María

Titel: Allmen und die verschwundene María Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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atmete kaum. Ihr Gesicht war bleich und still. Wie eine Totenmaske, fuhr es Cheryl durch den Kopf. Sie dachte daran, der Schwester zu klingeln, aber in diesem Moment seufzte Madame Gutbauer tief. Ohne die Augen zu öffnen, fragte sie: »Glauben Sie an Flüche, Cheryl?«
    Als die Assistentin nicht gleich antwortete, fuhr sie fort: »Ich habe bis jetzt nicht daran geglaubt. Aber dieses Bild… Ich glaube, es bringt Unglück.« Sie schlug die Augen so plötzlich auf, dass Cheryl erschrak. »Die Dahlien sind ein Fluch.«
    Cheryl Talfeld fröstelte. Aber sie blieb am Ball: »Dann geben Sie es her. Vielleicht bringt es zum ersten Mal jemandem Glück.«
    Dalia Gutbauer seufzte. »Ich glaube, dazu ist es zu spät.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Sie werden es gleich verstehen.« Ihre Hand griff wieder nach der Klingel. Diesmal drückte sie sie. Sofort trat die Pflegerin ein.
    [72]  »Helfen Sie mir, Schwester. Ich muss noch einmal aufstehen.«
    13
    »Sie wird es nicht herausgeben«, hatte Carlos gesagt, als Cheryl Talfeld den Raum verlassen hatte.
    »Ya veremos«, hatte Allmen, der Optimist, geantwortet. Von da an hatten sie meistens geschwiegen. Carlos hatte vor sich hin gestarrt und manchmal die Lippen bewegt. Allmen wusste nicht, ob im Selbstgespräch oder im Gespräch mit seinem Maximón.
    Allmen war aufgestanden und hatte Cheryls Zimmer inspiziert. Das Zimmer einer Heimatlosen. Gerahmte Fotos, ein altes Paar und das gleiche etwas jünger und noch mal sehr jung. Eine Frau und zwei Männer, die Cheryl glichen, Geschwister oder Cousins. Sie selbst als Tante Cheryl mit Kindern oder Babys. Gruppenfotos mit Arbeitskollegen vor verschiedenen Hotels. Die übrigen persönlichen Gegenstände waren Andenken. Kunsthandwerk von überall her, leicht zu transportierende Nippes.
    Hatte sie nicht erzählt, dass sie seit zweiundzwanzig Jahren bei Dalia Gutbauer war? Und dennoch sah es hier aus, als wäre sie ständig bereit, jederzeit ihre Siebensachen zu packen und ciao .
    [73]  Allmen stellte sich ans Fenster, um sich den mitleiderregenden Anblick von Carlos zu ersparen. Das Licht einer ganzen Büroetage erlosch, und für einen Augenblick sah es aus, als schwebe die obere Hälfte des Gebäudes davon. Er selbst wäre auch gerne davongeschwebt.
    Nach einer halben Stunde kam Cheryl zurück. Ihr Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes. Carlos war erwartungsvoll aufgesprungen, als er das Geräusch der Türklinke hörte. Als er ihre Miene sah, setzte er sich wieder. »Hija de puta«, murmelte er.
    »Sie bleibt dabei, nicht wahr?«, fragte Allmen.
    Cheryl seufzte. »Nein. Aber kommen Sie.«
    Sie folgten ihr durch den stillen Korridor zum offiziellen Schlafzimmer, das Allmen von früheren Besuchen kannte.
    Cheryl klopfte und trat ein, ohne auf eine Antwort zu warten. Dalia Gutbauer erwartete sie, halb sitzend, halb stehend an die Kante ihres überdimensionierten Art-déco-Bettes gelehnt.
    Allmen nickte ihr zu und richtete den Blick sofort auf die Stelle, wo die Dahlien hängen sollten. Sie war leer.
    Carlos, der den Raum noch nie betreten hatte, folgte Allmens Blick, sah die Lücke zwischen den Frauenporträts und verstand. Er sah Allmen an, fragend oder vorwurfsvoll oder beides.
    [74]  Dieser wandte sich wieder der alten Frau zu. Sie war jetzt ein wenig geschminkt und frisch frisiert und trug einen schwarzen Kimono mit kleinem goldenen Bambusmuster.
    »Ich konnte es nicht mehr sehen«, erklärte sie.
    »Und dann?«, fragte Allmen entgeistert.
    »Und dann?« Sie deutete mit dem Kinn in die Richtung, wo früher das Bild hing. »Sie sehen ja. Weg. Jetzt geht es mir besser.«
    Carlos hielt es nicht länger a us. »¿Dónde se encuentra, señora?«
    Sie überraschte ihn mit einem fast akzentfreien spanischen Anpfiff: »Nada te va en eso.« Das geht dich nichts an.
    Allmen kannte den Tonfall. So sprach die mittelamerikanische Oberschicht mit ihren Domestiken. Wie lange hatte sie in den dreißig Jahren ihres Untertauchens wohl in dieser Gegend gelebt?
    Carlos akzeptierte die Zurechtweisung mit einer Unterwürfigkeit, als sei er diesen Tonfall von klein auf gewohnt.
    Allmen ärgerte sich darüber und reagierte etwas schärfer, als es sonst seine Art war. »Nun sagen Sie schon, wo das verdammte Bild ist. Auch wenn es für Sie nichts taugt, für uns taugt es dazu, ein Leben zu retten.«
    Dalia Gutbauer antwortete mit einem [75]  Hustenanfall. Allmen wusste nicht, ob er ein Vorwand war, um Zeit zu gewinnen, oder ob sie damit einer Antwort ganz

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