Allmen und die verschwundene María
ausweichen wollte. Aber der Anfall dauerte länger, als es dafür nötig gewesen wäre. Sie presste eine Hand auf die hagere Brust und verzog vor Schmerzen das Gesicht.
Carlos ließ sich nicht täuschen. Er setzte sich langsam in Bewegung und ging drohend auf die hustende Greisin zu. Allmen griff nicht ein.
Madame Gutbauer streckte abwehrend die Hand aus und stieß zwischen zwei Hustenanfällen hervor: »Zeigen Sie es, Cheryl.«
Die Assistentin ging am Schminktisch vorbei zu einem schwarz-roten Paravent und verschwand dahinter.
Sie kam mit dem Bild zurück, trug es in die Mitte des Raumes und hielt es vor ihre Brust.
Allmen und Carlos stießen einen erschrockenen Schrei aus, der wie aus einer Kehle klang.
In dem Bild klaffte ein großes Loch. Die größte der Dahlien war herausgetrennt. Durch den Vandalenakt hatte die Leinwand ihre Spannung verloren. Die Schnittränder waren gewellt, und die Wellen setzten sich über das Gemälde fort.
Durch das Loch sah man das Muster von Cheryl Talfelds hellgelber Seidenbluse.
[77] Zweiter Teil
1
Die Pflegerin musste vor der Tür gestanden haben, offenbar hatte sie das Husten gehört. Sie kam mit einer Glasflasche herein und verabreichte ihrer Patientin einen Löffel Medizin.
Als ihr Anfall sich gelegt hatte, wedelte Madame Gutbauer die Schwester hinaus.
»Sie sollten ins Bett, Madame«, mahnte sie. »Sie brauchen Ruhe.«
»Gleich, Pflegefachfrau Duttli«, antwortete sie.
Als sich die Tür hinter der Pflegerin geschlossen hatte, deutete Allmen auf das zerstörte Bild. Er sagte nur: »Weshalb?«
Dalia Gutbauer zuckte bloß mit den Schultern.
Cheryl Talfeld hielt das Bild noch immer vor der Brust. Jetzt wurde es ihr zu schwer, und sie lehnte es an die Wand unter seine verwaisten Haken.
Allmen und Carlos warteten auf die Erklärung der alten Frau.
[78] Nach einer Weile sagte sie trotzig: »Ich bin Ihnen keine Rechenschaft schuldig. Das Bild gehört mir. Was ich damit mache, geht allein mich etwas an.«
»Sie hätten damit ein Leben retten können«, sagte Allmen.
»Das wusste ich nicht, als ich es … veränderte.«
Allmen sah wieder zu dem Bild. Veränderte , hatte sie gesagt.
Carlos, der fassungslos und mit geballten Fäusten vor der Verwüstung gestanden hatte, meldete sich jetzt zu Wort. »Tal vez se puede arreglar.«
»Reparieren? Dazu bräuchte es einen Restaurator.« Allmen hatte bereits ein wenig von seiner Zuversicht wiedergefunden und erkundigte sich: »Ist denn die… ähm… fehlende Dahlie noch vorhanden?«
Dalia sah ihre Assistentin an.
Cheryl Talfeld erklärte: »Madame Gutbauer hat die Blüte der Person zukommen lassen, die nach ihrer Meinung Anspruch darauf hat.« Sie klang so verlegen, als wäre das Ganze ihre Schuld.
»Welcher Person?«, fragte Allmen. Als Cheryl nicht antwortete, richtete er den Blick auf Dalia Gutbauer.
»Einer Bekannten. Jemand aus meinem Leben. Die irgendwie mit diesem Bild zu tun hat. Als Souvenir. Cheryl?«
[79] Die Assistentin übernahm wieder. »Sie wohnt im Haus, Mrs. Cutress. Sie sind ihr bei Ihrem letzten Aufenthalt begegnet. Es wurde ihr bereits zugestellt. Auf dem… ähm… internen Postweg.«
»Ich nehme an, ich kann die Details Ihnen überlassen«, sagte Dalia Gutbauer und klingelte nach ihrer Nachtschwester. Fast im gleichen Augenblick trat sie ein. Sie zog das Gehgestell in Madame Gutbauers Reichweite und begleitete sie zur Tür.
Von dort aus sagte die alte Dame, ohne sich umzuwenden: »Nehmen Sie das Bild meinetwegen mit, falls Sie etwas damit anfangen können.« Und dann, mehr zu sich selbst: »Es gehört mir ja. Ich kann damit machen, was ich will.«
Sobald die Tür zu war, fragte Allmen: »Sie ist geisteskrank, nicht?«
»Exzentrisch«, antwortete Cheryl.
»Haben Sie eine Ahnung, weshalb sie das getan hat?«
Cheryl hob die Hände und ließ sie wieder fallen. »Fragen Sie mich etwas Leichteres. Je länger ich für Dalia Gutbauer arbeite, desto weniger verstehe ich sie. Dabei dachte ich immer, im Alter werde man abgeklärter. Aber bei ihr geschieht das Gegenteil: Sie wird immer kindischer. Warum sie es getan hat? Am Schluss habe ich immer nur eine Antwort: Weil sie es kann.«
[80] Allmen sah auf seine Uhr. Es war kurz nach zehn. »Schläft Mrs. Cutress um diese Zeit schon?«
»So genau kenne ich die Lebensgewohnheiten unserer Gäste nicht. Auf alle Fälle frühstückt sie sehr spät. Das lässt doch darauf schließen, dass sie eher ein Nachtmensch ist, nicht wahr?«
»Kommen Sie,
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