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Allmen und die verschwundene María

Allmen und die verschwundene María

Titel: Allmen und die verschwundene María Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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sie es nicht, Due hatte ihr die Uhr weggenommen – hatte sie noch geschwitzt. Sie war sicher, dass sie hohes Fieber hatte.
    Am frühen Abend waren die Entführer wiedergekommen. Der, den der andere »Due« nannte, und der, dem sie den Namen »Julio« gegeben hatte, weil er dem jungen Julio Iglesias ähnlich sah. Julio hatte mit Carlos telefoniert, und Due hatte ihr den Arm auf den Rücken gedreht, damit sie aufschreien und Carlos erschrecken musste. Hoffentlich hatte er begriffen, weshalb sie »Yalmha!« geschrien hatte.
    Aus dem Gespräch hatte sie erfahren, dass am nächsten Tag um zehn Uhr vormittags die Übergabe geplant war. Aber sie hatte keine großen Hoffnungen, dass die Alte das Bild herausrücken [85]  würde. María hatte in ihrem Beruf schon einige reiche Leute kennengelernt und machte sich keine Illusionen über deren Großzügigkeit und Herzensgüte.
    Due hatte eine Zigarette geraucht und den Stummel in der kalten Pizza ausgedrückt, die sie noch immer nicht angerührt hatte.
    Julio hatte María die ganze Zeit ignoriert und den Raum wie beim letzten Mal vor seinem Helfer verlassen. Dieser hatte sie wieder schweigend angestarrt. Dann war er zum Eimer gegangen, der ihr als Toilette diente, hatte interessiert hineingesehen, dann wieder zu ihr geschaut und gegrinst. Danach hatte er seine klobige Hand auf ihre heiße Stirne gelegt und febbre alta und etwas von medicina gemurmelt.
    Zum Schluss hatte er sein Messer aufschnappen lassen, die beiden obersten Knöpfe ihrer Bluse abgeschnitten und sie auf den Boden geworfen.
    Erst dann war er gegangen. Mit Kusshand.
    Es war längst dunkel geworden. Durch das Kellerfenster sah sie das Aufleuchten und Verlöschen der Scheinwerfer selten vorbeifahrender Autos. Manchmal fiel sie in einen fiebrigen Schlaf von ein paar Sekunden oder Stunden, sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren.
    Jedes Mal, wenn sie erwachte, trank sie aus der [86]  Wasserflasche. Die Männer hatten ihr eine neue gebracht, immerhin.
    Der Schmerz an den Handgelenken, der von den Fesseln herrührte, hatte nachgelassen. Oder vielleicht wurde er auch nur überdeckt von den Glieder-, Hals- und Kopfschmerzen, unter denen sie seit ein paar Stunden litt. Ihre Nase lief, sie putzte sie mit Toilettenpapier, das sie sparsam von der halben Rolle riss, die man ihr gewährt hatte. Ihre anfängliche Wut, die sie noch Fluchtpläne hatte schmieden lassen, war einer großen Hoffnungslosigkeit gewichen. Und einer Angst, wie sie sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gekannt hatte, der Angst während der Razzien in ihrem Barrio in Bogotá.
    Eine weitere Erinnerung aus ihrer Kindheit quälte sie: die an die Lungenentzündung, die sie als Zehnjährige fast das Leben gekostet hatte. So wie jetzt hatte sie sich damals auch gefühlt.
    Das nächste Mal erwachte sie mit dem Gedanken an den kommenden Tag. Falls die Übergabe stattfand, würden sie sie mitnehmen. Und falls sie sie mitnahmen, bestimmt wieder im Kofferraum.
    Der Gedanke daran löste einen Weinkrampf aus. Eine weitere Fahrt im Kofferraum würde sie in diesem Zustand nicht überleben.
    Als sie wieder erwachte, drang endlich die Dämmerung durch den Schacht. In ihrem trüben Licht [87]  sah sie die Pizzaschachtel neben der Matratze. Sie mobilisierte ihre letzten Kräfte, stützte sich auf den Ellbogen und öffnete den Deckel. Die Pizza glänzte speckig, und mittendrin steckte Dues Zigarettenstummel.
    Sie riss ein Stück ab und zwang sich, es zu essen, damit sie wieder ein wenig zu Kräften kam.
    Nach ein paar Bissen übergab sie sich.
    4
    In einem anderen Keller in einem ganz anderen Teil der Stadt knieten Allmen und Carlos im Fünfsternemüll und schwitzten. Der Raum lag neben der Heizungsanlage, und die Hitze der Warmwasserbrenner wärmte den Raum auch nachts.
    Sie mussten die herausgeschnittene Dahlie finden. Sie würden sie von hinten notdürftig ankleben und das Bild so austauschen. Es wäre dann zwar immer noch beschädigt und müsste repariert werden. Aber ohne die Dahlie mit dem klaffenden Loch war es mehr als beschädigt. Es war zerstört.
    Der Nachtportier hatte sie in den Raum geführt und auf die Müllcontainer gedeutet, die dort in einer Reihe an der Wand standen. Er hatte erklärt: »Die Papierkörbe werden mit einem [88]  durchsichtigen Plastiksack ausgeschlagen. Das Reinigungspersonal nimmt die Säcke mit Abfall heraus, entfernt Gegenstände, die nicht hineingehören, wie Flaschen, Dosen und so weiter, lässt den Rest drin, macht einen Knoten in den

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