Alltag auf arabisch: Nahaufnahmen von Kairo bis Bagdad (German Edition)
zu orientieren
(Bagdad, den 18. April 2003)
Zum ersten Mal nach dem Ausbruch des Krieges fährt Intisar durch die Stadt. Sie sitzt schweigend auf dem Rücksitz des Wagens. „Das ist eine vollkommen andere Stadt als die, in der ich noch vor einem Monat gelebt habe“, unterbricht sie nur kurz die Stille. Wir fahren vorbei an geplünderten und ausgebrannten staatlichen Institutionen wie dem Ministerium für Bewässerung und dem Bildungsministerium. Intisar hält entsetzt ihre Hände vor den Mund, als wir an einer Gruppe von Männern vorbeifahren, die gerade dabei sind, große Säcke mit Mehl und Zucker aufzuladen, die sie noch in einem staatlichen Lebensmittellager aufgetrieben haben. Ihr Lkw ist bereits voll mit allerlei anderem Diebesgut, das sie heute in der Stadt gefunden haben. Ein alter Kühlschrank, ein paar Teppiche und eine angerostete Klimaanlage. Drei amerikanische Militärjeeps fahren vorbei, ohne die Plünderer zu behelligen. Ungläubig blickt Intisar dem Jeep hinterher, bis sie an der nächsten nicht funktionierenden Ampel rechts abbiegen. Kurz darauf erscheint das Palestine Hotel, in dem die US-Armee und die ausländischen Journalisten ihr Quartier aufgeschlagen haben und das Hunderte von Iraker auf der Suche nach Arbeit belagern.
Gegenüber auf dem Fardous-Platz steht der Sockel, auf dem bis vor neun Tagen noch Saddam Husseins Statue stand, bevor sie dank moderner Medientechnologie live vor den Augen aller Welt gestürzt wurde. Oder fast der ganzen Welt: Intisar und Zuhair saßen zu diesem Zeitpunkt ohne Elektrizität in ihrem Haus und lauschten im Radio den Berichten von dem, was in ihrer Stadt gerade geschah. Es sei schwer zu erklären, was in ihnen vorging, sagen beide. Zuhair versucht es trotzdem: „Saddam war wie ein Vater, der dich ständig schlägt und misshandelt, und dann kommt jemand und bringt ihn um.“
Intisars und Zuhairs Köpfe sind voll von Widersprüchen. Sie sind froh, Saddam Hussein losgeworden zu sein, und glücklich, dass der Krieg vorüber ist. Die Amerikaner bezeichnen sie als „Besatzer“, und ihre generelle Gefühlslage beschreiben sie als „traurig“. Intisar hat seit dem Kriegsbeginn ein Magenleiden. Auch mit der Ankunft der US-Soldaten in der Stadt „fressen im Stress ihre Verdauungssäfte ihren Magen auf“, wie sie es beschreibt. Die Araber hätten etwas, was man im Westen vielleicht nicht verstehen könne, und das sei Stolz, erklärt sie. „Als ich den ersten US-Soldaten auf der Straße hinter meinem Haus gesehen habe, habe ich geweint. Ich hätte gerne eine Waffe gehabt und ihn getötet, wenn ich gewusst hätte, wie. Einfach zu kapitulieren, hat einen bitteren Geschmack.“ Nicht gerade die Worte einer glücklich Befreiten. Später entspinnt sich im Haus eine heftige Diskussion über die Frage, ob es für Bagdad nicht besser sei, dass es widerstandslos gefallen ist und damit ein Blutbad verhindert wurde. Die erste spontane Antwort von Zuhair und Intisar ist eindeutig: „Widerstand wäre besser gewesen.“ Doch dann kommen sie ins Grübeln. „Wir wären mit wehenden Fahnen untergegangen, und es wäre sinnlos gewesen. Die Leute wären für nichts gestorben, weil das Ergebnis von vornherein klar war“, sagt Zuhair. „Außerdem hätte das den Anschein erweckt, dass wir für das Regime und nicht für unser Land kämpfen.“
„Ich bin psychisch völlig fertig, und es ist schwer, einen klaren Gedanken zu fassen“, bricht Intisar die Diskussion ab. Über eines sind sich dann aber beide sofort wieder einig: Die Amerikaner sind in dieser Stadt nicht willkommen. Fünf Tage nach deren Einmarsch bezieht eine Gruppe von sieben US-Panzern in der Nähe ihres Hauses Position. Zuhair, der schon am Tag zuvor bei einer Fahrt durch die Stadt erstmals amerikanische Soldaten gesehen hat, nutzt die Chance, seiner Familie die neuen Herrscher der Stadt zu zeigen. Ein Panzerfahrer hat der kleinen Samma zugewinkt. Sie wollte zurückgrüßen. Aber ihre Mutter hat ihre Hand festgehalten und zu ihr gesagt, „Kein Hallo für unseren Feind.“ „Später“, reflektiert sie, „habe ich dann gedacht, dass diese jungen Soldaten doch selber noch Kinder sind, die keine Ahnung haben, warum sie in der Stadt sind.“
Kurz darauf traf Zuhair eine Gruppe von US-Marines. „Ist alles in Ordnung?“, fragte der Offizier. „Seit Sie hier sind, nicht mehr“, antwortete Zuhair, der fließend Englisch spricht, dem verdutzten Offizier. So hat Zuhair Abu Sarah den Marines-Captain Watt kennen
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