Alltag auf arabisch: Nahaufnahmen von Kairo bis Bagdad (German Edition)
gelernt. Eine Stunde lang haben sie dort auf der Straße diskutiert. Zuhair hat ihm gesagt, er sei Teil einer Besatzungsarmee und damit auch für seine Sicherheit und die seiner Familie zuständig. Watt antwortete, dass er kein Polizist sei. Zuhair argumentierte mit der Genfer Konvention. Was er tun könne, fragte Watt. Und Zuhair erklärte ihm, dass mit der Wiederherstellung der Stromversorgung schon die Hälfte des Problems mit den Plünderungen gelöst wäre. Außerdem solle die US-Armee die zehn Kanalbrücken überwachen, die in die nördlichen schiitischen Armenviertel führen, wohin ein Großteil des Diebesgutes abtransportiert wird. Watt fragte, ob Zuhair nicht mit den Marines zusammenarbeiten wolle, und streckte die Hand aus. „Ich habe ihm gesagt, dass ich keinem Besatzer die Hand schüttle. Aber dass er herzlich in mein Haus eingeladen sei, wenn er keine Uniform anhat“, erinnert sich Zuhair. Später habe er gedacht: „Mein Gott, hätte ich jemals so mit einem irakischen Geheimdienstoffizier gesprochen?“ Das Treffen und die Diskussion mit Captain Watts haben Zuhair im Umgang mit den Amerikanern Selbstvertrauen gegeben. Als am nächsten Tag eine Gruppe Marines die benachbarte Polizeistation durchsucht und dort unter den Buhrufen der Nachbarschaft die irakische Fahne herunterholt, schlägt Zuhairs erste große Stunde im neuen Irak. Intisar versucht, ihn zurückzuhalten, aber er marschiert in die Polizeistation und fordert, dass die Fahne, die nichts mit dem alten Regime zu tun hat, sofort wieder hochgezogen wird. Er solle mit Captain Watts Kontakt aufnehmen, verlangt Zuhair von dem Offizier. Der kommt kurz darauf wieder und sagt: „Alles in Ordnung, Sir“, man werde die Fahne wieder hochziehen. Aber Zuhair verlangt, das persönlich zu tun, und zieht das rot-weiß-schwarze Banner mit den drei grünen Sternen unter dem Applaus der gesamten Nachbarschaft wieder hoch.
Seitdem fungiert Zuhair als eine Art Sprecher für die umliegenden Straßen. Im Moment geht es vor allem darum, den Stromgenerator der benachbarten Grundschule zu sichern. Mehrmals hatten bewaffnete Männer versucht, in die Schule einzudringen. Am sechsten Tag der amerikanischen Befreiung der Stadt erschien eine bewaffnete Bande von elf Männern mit einem Kran und einem Lkw, um den großen Generator abzuholen. Gerade als die Nachbarn diskutierten, ob man sich den Plünderern mit Waffengewalt entgegenstellen solle, kam eine Patrouille der Marines des Wegs. Jemand hatte sie von der Hauptstraße herbeigerufen. Einige Plünderer wurden festgenommen, aber später vor den Augen aller wieder freigelassen. Sie seien nicht auf frischer Tat ertappt worden, rechtfertigt der Offizier seinen Befehl. „Aber der Kran stand bereits in der Schule“, argumentiert Zuhair. „Ich frage ihn, was er denn machen würde, wenn jemand mit einer Waffe vor einer Bank in Los Angeles steht“, erinnert er sich. Der Kran sei schließlich keine Waffe, entgegnet der Offizier. Zuhairs Einwand, dass in diesem Fall genau der Kran die Waffe sei, will er nicht gelten lassen.
Später kommen einige Nachbarn und raten Zuhair dringend, mit den US-Soldaten vorsichtiger zu sein. Er könnte sonst womöglich für einen Vertreter des alten Regimes gehalten werden und Schwierigkeiten bekommen. Heute, sagt Zuhair, sei alles seitenverkehrt. „Früher haben die Iraker Saddam Hussein in der Öffentlichkeit gepriesen und im Privaten verflucht, heute machen sie das Gleiche mit den Amerikanern.“ Seine Frau stimmt zu: „Saddam hat uns die Angst gelehrt vor jedem, der stärker ist als wir. Dieser Saddam-Komplex funktioniert bei den Leuten heute mit den Amerikanern.“
Und dann kommt wieder die Verwirrung zutage. Wie soll man sich in diesen neuen Zeiten zurechtfinden? Stundenlang diskutieren wir am Küchentisch die Frage, welche positiven Möglichkeiten sich mit der neuen Besatzung ergeben. Zuhair, der gelernte Landwirtschaftsingenieur, der sich jahrelang über Wasser gehalten hat, indem er für palästinensische Zeitungen kulturhistorische Artikel schrieb, möchte sein Englisch mit Kursen im Britischen Kulturinstitut verbessern, das hoffentlich bald wieder aufmachen wird. Er könnte vielleicht auch demnächst Artikel in irakischen Medien veröffentlichen. „Am wichtigsten ist es, unsere eigene moderne Geschichte aufzuarbeiten. Da gibt es viel Nachholbedarf“, sagt er.
Die einstige englische Literaturstudentin Intisar, die früher als Sekretärin bei der DDR-Nachrichtenagentur ADN
Weitere Kostenlose Bücher