Alltag auf arabisch: Nahaufnahmen von Kairo bis Bagdad (German Edition)
eine einfache Rechnung aufgestellt: Sollte ihm etwas zustoßen, opfert er die 23 Menschen, die jetzt von ihm abhängig sind. Resigniert fügt er hinzu: „Als Saddam endlich weg war, haben wir gehofft, dass unser Leben endlich eine bessere Wendung nimmt. Was für eine Ironie.“
„Meine Gefühle? Die sind abgestorben“ –
Die Familie Radwan reflektiert über ihre Flucht und fünf Jahre Irak-Desaster
(Kairo, den 26. März 2008)
Früher saßen wir immer gemeinsam am Küchentisch im Haus der Familie Radwan im Norden Bagdads. Mit Zuhair, dem Familienvater, und seiner Frau Intisar debattierten wir über Saddam, den Krieg und schließlich über ihre Hoffnungen und Wünsche im neuen Irak.
Heute sitzen wir wieder zusammen am Küchentisch, allerdings nicht in Bagdad, sondern in Kairo. Die irakische Familie war im Sommer vor zwei Jahren aus Bagdad nach Ägypten geflohen. Sie hatte es einfach nicht mehr ausgehalten. Einmal, im Sommer 2005, explodierte eine Bombe neben der Schule der beiden Töchter Sarah und Samma. Noch heute erzählen die beiden Mädchen mit aufgeregten Stimmen davon, wie sie unter den Tisch krochen und wie Sarah ihre kleine Schwester im anschließenden Chaos auf dem Schulhof suchte, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist. Später kamen zur ständigen Angst vor Anschlägen noch die Milizen und Todesschwadronen hinzu. „Immer wenn wir zur Arbeit oder zur Schule mussten, wussten wir nicht, ob wir uns am Abend wiedersehen“, erinnert sich Intisar. Und abends, zu Hause, sei sie jedes Mal zusammengezuckt, wenn das Gartentor klapperte. „Ich dachte, jetzt kommen die Milizen und holen meinen Mann.“ Zuhair, der inzwischen als Journalist bei der unabhängigen irakischen Tageszeitung Al-Mada in Bagdad arbeitete, saß eines Tages im Büro an seinem Computer, als das Internet ausfiel. Er war gerade von seinem Arbeitsplatz aufgestanden, um im Nebenzimmer den Techniker zu suchen, als die Bombe vor dem Gebäude explodierte. Als Zuhair zu seinem Arbeitsplatz zurückkehrte, war sein Schreibtisch von Trümmern der heruntergestürzten Decke bedeckt.
Das Traurigste in den letzten fünf Jahren war, das Haus in Bagdad zusammenzupacken, sind sich Intisar und Zuhair einig. „Jedes einzelne Stück dort haben wir gekauft, gesammelt oder geschenkt bekommen, und dann musst du dich entscheiden, welche wenigen Sachen du in den wenigen Koffern mitnimmst“, blickt Zuhair zurück. Die Fotoalben hat er schließlich eingepackt, obwohl sie einen Großteil der Tasche in Anspruch nahmen. „Das war unser Leben, dachte ich damals, das muss unbedingt mit.“ Dann kamen die Leute aus der Nachbarschaft und nahmen den Rest mit. Zuhair ist noch einmal durch das leere Haus gegangen: „Alle meine Erinnerungen waren weg. Ich fühlte mich wie im Koma.“ Die letzte Nacht verbrachte die Familie auf einem Teppich auf dem Dach. Die Matratzen waren weg. „Wir hörten Schüsse in der Nähe des Hauses.“ Da haben die Eltern ihre Töchter in die Mitte genommen und an sich gedrückt. „Bis zum Morgen habe ich wach gelegen“, erinnert sich Zuhair, bis schließlich das Taxi kam, um die Familie zum Flughafen zu bringen.
Die Flucht war die beste Entscheidung ihres Leben, meinen Zuhair und Intisar heute. Manchmal gehe er durch die Straßen von Kairo und habe dabei das gleiche Gefühl, wie wenn man aus dem Schlaf aufwacht und im ersten Moment nicht genau weiß, wo man ist, beschreibt Zuhair seine Empfindungen. Es war ein dramatischer Wechsel. „Ich bin 55 Jahre alt, in den nächsten Jahren hätte ich eigentlich an meine Pension denken müssen. Stattdessen muss ich jetzt mit meiner Familie ein neues Leben aufbauen“, sagt er. Zuhair hat Glück gehabt. Seit Beginn des Jahres arbeitet er in einer ausländischen Nachrichtenagentur in Kairo. Intisar hat diesen Monat bei einer privaten ägyptischen Organisation angefangen, die Schulprojekte für Kinder aus den Armenvierteln Kairos koordiniert. Anders als viele der mehr als zwei Millionen Iraker, die seit dem Krieg ihre Koffer gepackt haben und meist nach Syrien, Jordanien und Ägypten gekommen sind, hat die Familie Radwan damit ein gesichertes Auskommen.
Ob sie an Rückkehr denken, wenn sich die Lage im Irak verbessern würde? Zuhair kommt mit einem historischen Vergleich. „Verbrennt die Schiffe“, hatte der arabische Feldherr Tarek Ben Ziad bei der Eroberung Andalusiens seinen Männern befohlen, nachdem sie die Meerenge von Gibraltar überquert hatten. Selbst wenn sich die Sicherheitslage
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