Allwissend
verklagen. Mein Vater ist Anwalt in San Mateo.«
Die ärgerliche Pose sollte von Dances Frage ablenken. Tammy hatte etwas gesehen.
»Konnten Sie womöglich sein Spiegelbild in einem der Wagenfenster erkennen, als er Sie angegriffen hat?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. Doch Dance ließ nicht locker. »Nur ein kurzer Blick. Versuchen Sie, sich zu erinnern. Es wird hier nachts ziemlich kühl; er war bestimmt nicht in Hemdsärmeln unterwegs. Hat er eine Jacke getragen? Aus Leder, aus Stoff? Einen Pullover? Vielleicht ein Sweatshirt? Mit Kapuze?«
Tammy sagte jedes Mal Nein, aber manche Neins unterschieden sich von den anderen.
Dann fiel Dance auf, dass das Mädchen einen schnellen Blick auf einen der Blumensträuße warf, die auf dem Tisch standen. Die zugehörige Karte lautete: To, Kleine, schwing deinen Hintern möglichst bald aus dem Krankenhaus! Alles Liebe, J, P und das Beasty Girl.
Kathryn Dance hielt sich für eine halbwegs passable Ermittlungsbeamtin, die im Wesentlichen deshalb Erfolg hatte, weil sie ihre Hausaufgaben machte und kein Nein als Antwort akzeptierte. Hin und wieder vollführte ihr Verstand jedoch einen sonderbaren Sprung. Sie ließ die Fakten und Eindrücke Revue passieren, und plötzlich hatte sie eine unerwartete Eingebung - eine Herleitung oder Schlussfolgerung, die sich wie durch Zauberei zu ergeben schien.
Von A nach B nach X...
Genau dies geschah auch jetzt, als sie Tammy mit sorgenvollem Blick zu den Blumen schauen sah. Kathryn versuchte ihr Glück.
»Sehen Sie, Tammy, wir wissen, dass Ihr Angreifer - wer immer das war - außerdem ein Kreuz am Straßenrand platziert hat, als eine Art Botschaft.«
Die Augen des Mädchens weiteten sich.
Erwischt, dachte Dance. Sie weiß tatsächlich von dem Kreuz. Weiter im Text. »Botschaften wie diese stammen immer von Leuten, die die Opfer kennen«, improvisierte sie.
»Ich... ich habe doch gehört, dass er spanisch gesprochen hat.«
Dance wusste, dass das gelogen war, aber sie wusste auch, dass Menschen mit Persönlichkeitsmustern wie dem von Tammy stets einen offenen Fluchtweg brauchten, sonst hätten sie völlig dichtgemacht.
»Oh, gewiss haben Sie das«, sagte Dance liebenswürdig. »Aber ich glaube, dass er versucht hat, seine Identität zu verbergen. Er wollte Sie zum Narren halten.«
Der armen Tammy war erbärmlich zumute.
Wer jagte ihr dermaßen Angst ein?
»Zunächst mal, Tammy, lassen Sie mich Ihnen versichern, dass wir Sie beschützen werden. Wer auch immer Ihnen dies angetan hat, wird nicht noch einmal in Ihre Nähe gelangen. Ich postiere einen Polizisten vor Ihrer Tür hier. Und auch bei Ihnen zu Hause wird ein Beamter sein, bis wir den Täter gefangen haben.«
Erleichterung in ihrem Blick.
»Ein anderer Gedanke: Könnte es sich um einen Stalker handeln? Sie sind sehr hübsch. Ich möchte wetten, Sie müssen ziemlich aufpassen.«
Ein Lächeln - sehr vorsichtig, aber dennoch erfreut über das Kompliment.
»Hat jemand Sie drangsaliert?«
Die junge Patientin zögerte.
Wir sind nah dran. Wir sind wirklich nah dran.
Doch Tammy machte einen Rückzieher. »Nein.«
Dance ebenfalls. »Gab es Probleme innerhalb Ihrer Familie?« Es war immerhin eine Möglichkeit. Dance hatte sich vergewissert. Die Eltern waren geschieden - nach einer harten Auseinandersetzung vor Gericht -, und Tammys älterer Bruder wohnte nicht mehr zu Hause. Ein Onkel war mal wegen häuslicher Gewalt festgenommen worden.
Doch Tammys Augen war anzusehen, dass vermutlich keiner ihrer Angehörigen hinter dem Überfall steckte.
Dance angelte weiter. »Macht vielleicht jemand Ärger, mit dem Sie sich E-Mails geschrieben haben? Eventuell eine Online-Bekanntschaft, die sich bei Facebook oder MySpace ergeben hat? So was kommt heutzutage immer öfter vor.«
»Nein, ehrlich. Ich bin nicht besonders häufig im Netz.« Sie schnipste mit einem Fingernagel gegen einen anderen, was einem verzweifelten Händeringen entsprach.
»Es tut mir leid, dass ich Sie so bedrängen muss, Tammy, aber wir wollen unbedingt verhindern, dass so etwas noch mal geschieht.«
Dann sah Dance etwas, das sie wie ein Schlag traf. Die Augen des Mädchens zeigten eine kognitive Reaktion - ein leichtes Heben der Brauen und Lider. Das hieß, dass Tammy durchaus befürchtete, es könne erneut passieren. Da sie selbst unter Polizeischutz stehen würde, stellte der Angreifer ihrer Meinung nach also eine Gefahr für andere dar.
Das Mädchen schluckte. Es befand sich eindeutig in der Reaktionsphase
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