Allwissend
»Interessant. Es gibt eine Jugendakte.« Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, Entschuldigung. Mein Fehler. Das ist nicht seine Akte, sondern die von Samuel Brigham, gleiche Adresse. Er ist fünfzehn. Wurde zweimal wegen Spannens verhaftet, davon einmal mit minderem Sittlichkeitsvergehen. Man hat keine Anklage erhoben, vorbehaltlich einer psychiatrischen Behandlung. Offenbar ist er der jüngere Bruder. Zu Travis liegt nichts vor.«
Sie holte Travis' Führerscheinfoto auf den Bildschirm. Ein dunkelhaariger Junge mit eng beieinanderstehenden Augen unter dichten Brauen starrte in die Kamera. Er lächelte nicht.
»Ich würde gern mehr über den Unfall wissen«, sagte O'Neil.
Dance rief die örtliche Dienststelle der Highway Patrol an, wie die kalifornische Staatspolizei offiziell hieß. Nachdem man sie einige Male weiterverbunden hatte, landete sie bei einem gewissen Sergeant Brodsky, legte das Gespräch auf den Lautsprecher des Telefons und erkundigte sich nach dem Unfall.
Brodsky verfiel sofort in die Stimmlage, die alle Polizisten bei einer Aussage vor Gericht aufweisen. Ohne Gefühlsregung, präzise. »Es war kurz vor Mitternacht am Samstag, dem neunten Juni. Vier Jugendliche, drei weiblich, einer männlich, waren in nördlicher Richtung auf dem Highway Eins unterwegs, knapp fünf Kilometer südlich der Carmel Highlands, unweit der Garrapata State Beach Reserve. Der Junge saß am Steuer. Das Fahrzeug war ein Nissan Altima neueren Baujahrs und zum Zeitpunkt des Unfalls ungefähr siebzig Stundenkilometer schnell. Der Fahrer hat eine Kurve verpasst, ist ins Rutschen geraten und über eine Klippe gestürzt. Die zwei Mädchen auf der Rückbank waren nicht angeschnallt und sofort tot. Das Mädchen auf dem Beifahrersitz hat eine Gehirnerschütterung davongetragen und einige Tage im Krankenhaus gelegen. Der Fahrer wurde in die Notaufnahme eingeliefert, untersucht und nach Hause entlassen.«
»Was ist laut Travis' Aussage geschehen?«, fragte Dance.
»Er hat einfach die Kontrolle verloren. Es hatte zuvor geregnet. Auf der Fahrbahn stand Wasser. Er wollte die Fahrspur wechseln und kam ins Rutschen. Der Wagen gehörte einem der Mädchen, und die Reifen hatten nicht mehr viel Profil. Es lag keine Geschwindigkeitsübertretung vor, und der Alkohol- und Drogentest war negativ. Das überlebende Mädchen hat die Aussage des Jungen bestätigt.« In seiner Stimme schwang ein wenig Rechtfertigung mit. »Wissen Sie, es gab keinen Grund, ihn anzuklagen. Was auch immer andere Leute über unsere Ermittlungen behaupten mögen.«
Demnach hatte auch er das Blog gelesen, folgerte Dance.
»Wollen Sie die Untersuchung wieder aufnehmen?«, fragte Brodsky argwöhnisch.
»Nein, wir bearbeiten den Überfall von letzter Nacht. Das Mädchen im Kofferraum.«
»Ach, das. Und Sie glauben, der Junge war's?«
»Vielleicht.«
»Das würde mich nicht überraschen. Kein Stück.« »Warum sagen Sie das?«
»Man hat manchmal so ein Gefühl. Travis war gefährlich. Sein Blick war genauso wie der von den Kids an der Columbine.«
Woher wollte er wissen, wie die Verantwortlichen dieses berüchtigten Massenmords aus dem Jahre 1999 während der Tat dreingeblickt hatten?
»Sehen Sie, er war ein Fan der Täter«, fügte Brodsky hinzu. »Er hatte Fotos von ihnen in seinem Spind.«
Hatte der Beamte das selbst herausgefunden oder nur in dem Blog gelesen? Dance erinnerte sich, dass jemand in dem Thread »Kreuze am Straßenrand« eine entsprechende Behauptung gepostet hatte.
»Haben Sie ihn während der Vernehmung als bedrohlich empfunden?«, meldete O'Neil sich zu Wort.
»Ja, Sir. Ich hatte die ganze Zeit meine Handschellen griffbereit. Er ist groß und kräftig. Und er hatte so ein Kapuzenshirt an. Hat mich einfach angestarrt. Irgendwie schräg.«
Als Brodsky das Kleidungsstück erwähnte, fiel Dance wieder ein, dass auch Tammys Angreifer vermutlich ein solches Sweatshirt getragen hatte - jedenfalls laut der Reaktion des Mädchens.
Sie bedankte sich bei dem Beamten und beendete das Gespräch. Nach einem Moment schaute sie zu Boling. »Jon, können Sie uns etwas über Travis sagen? Geben die Postings etwas her?«
Er überlegte kurz. »Eine Sache erscheint mir bemerkenswert. Falls er tatsächlich ein Gamer ist, wie es heißt, könnte das von Bedeutung sein.«
»Sie meinen, weil er durch diese Spiele gewaltbereit wird?«, fragte O'Neil. »Es gab da neulich so eine Sendung im Fernsehen.«
Doch Jon Boling schüttelte den Kopf. »Das ist eine populäre
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