Alpenkasper
größte.«
»Lass uns eben darum abhauen, ganz weit weg, dorthin, wo es nur noch uns gibt.«
»Denk an die Freunde. Ohne unsere Freunde ist der schönste Tag im Leben nichts. Ohne unsere Freunde würden wir uns gar nicht kennen.«
Ohne unsere Eltern wären wir gar nicht auf der Welt, ohne unsere Großeltern wären unsere Eltern nicht da und ohne Urknall… – und wenn die Dinosaurier nicht ausgestorben wären, weiß keiner, was dann wäre. Das bringt nicht weiter. Leider in mancherlei Hinsicht. Wir schulden unserem Nachbarn nichts, wir schulden nicht einmal dem Zufall was. Den Zufall gibt’s sowieso nicht, so wie es die deutsche Industrie oder auch das Volk nicht gibt. Es gibt nur die Zufälle und eine Art Schicksal, an das man glauben muss, wenn es einem hilft (das Glauben, nicht das Schicksal).
Birne hatte keine Freunde. Wer ein echter Freund ist, merkst du sowieso erst in bestimmten Situationen und welche Situationen das sind, merkst du erst, wenn sie da sind und mit ihnen die echten Freunde. Schrecklicher als die Pest sind natürlich die, die dich ausnützen wollen, in keiner Weise zu verachten dagegen die, die dich schätzen, weil man mit dir so schön trinken kann und, wenn du genug getrunken hast, so gut reden kann über alles, was einem das Leben so über die Leber schickt. Wenn man jung ist, gibt es eine Menge Freunde oder auch Gestalten, mit denen man abhängt. Es fällt einem nicht schwer, weil man immer wegen irgendwas abhängt, man zieht zusammen ein Ding durch und sei es auch nur das gemeinsame Erwachsenwerden oder das kollektive Saufenlernen. Später wird das schwerer, weil jeder sein Privathaus einrichtet und die gemeinsamen Dinge weniger werden, zwangsläufig. Auf einmal erfordert es Energie, die Freundschaften zu pflegen, in die Städte zu reisen, wo die anderen studieren und / oder ihre Kinder großziehen. Sie reden am Biertisch vor allem über sich oder dich, wo früher die Musik oder ein Film wichtig waren. 100 Kilometer entfernt von daheim ist eines von zwei Themen: du. War das den Weg wert? Man verträgt mehr Bier als früher, bereut es dafür aber länger und erbärmlicher, was einen wesentlichen Nachteil des menschlichen Körpers darstellt, in dem man steckt von der Plazenta bis zur Verwesung. Sollte ein Designer in naher oder ferner Zukunft am Reißbrett den perfekten Menschen konstruieren und auch bauen, sollte er die Katertoleranz ganz oben in die Liste der unbedingt zu optimierenden Eigenschaften aufnehmen.
Wegen der Freunde hatte Birne eine Zeitlang ein gewisses schlechtes Gewissen gehabt und viel geschrieben und telefoniert zur Aufrechterhaltung des Kontakts. Diese Zeitlang war auch bestimmt durch eine nicht zu verleugnende Einsamkeit in Birnes Dasein als Neuankömmling in ein paar Städten, in die es ihn verschlagen hatte. Und es stimmt zweifellos, dass es ohne Birnes Netzwerken kein Aufeinandertreffen von ihm und Katharina gegeben hätte. Und es stimmt nicht weniger zweifellos, dass dieses Aufeinandertreffen das Beste war, was Birne in seinem durchaus mittelmäßigen Leben passiert war – bis dahin.
Postsuizid
Der dicke Kritiker empfing Tanja im Kimono. Sein mit Pflastern notdürftig repariertes Gesicht blickte müde auf sie. Er schob eine beträchtliche Fahne vor sich her.
»Sie sind von der Polizei, ja?«
»Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.«
»Natürlich. Wenn ich zwischendrin einschlafe, versuchen Sie leise zu gehen.«
Er führte sie in sein Arbeitszimmer, wo sich Bücher auf dem Boden stapelten, es gab keinen nicht von Papier bedeckten Fleck in dem Raum. Schultzberg streifte ein paar Programmhefte von einem Stuhl und bot ihn Tanja an, sie musste sich aufrecht und steif drauf setzen, um nicht Schriftstücke mir Straßenschmutz zu versauen.
»Warum wollten Sie sich umbringen?«, begann Tanja direkt.
»Ich bin so müde, ich werde diese Müdigkeit gar nicht mehr los, es ist zum Verzweifeln. Deswegen muss der hier weg aus der Welt.«
»In letzter Zeit hat es ein paar gute Freunde von ihnen erwischt: Heinz, Franzbein. Sie sind nicht alle auf natürliche Weise gestorben.«
»Ich bin so traurig. Die Guten gehen, mit dem Rest soll ich allein zurückbleiben?«
»Hatten Sie Angst, dass man Ihnen etwas antut?«
»Wäre jetzt albern zu behaupten, dass man als Kritiker keine Feinde hat. Ich kann Ihnen aus dem Stegreif ein paar Dutzend nennen. Ich kann mir nur nicht vorstellen, dass die ernsthaft angreifen. Wir spielen miteinander, man darf das nicht zu ernst
Weitere Kostenlose Bücher