Alpenkasper
auffressen, den Rest, die Hülle, bläst der Wind in alle Richtungen davon.
Der ICE fuhr auf den Oberhausener Bahnhof zu, durch den würde er jagen und mit seinem Fahrtwind ein wenig die Röcke der wartenden Mädchen am Bahnsteig lupfen. Ein gebückter Alter schwankte über den Steig, er hatte Mühe sein Gleichgewicht zu halten, er hatte um diese frühe Zeit schon zu viel getankt. Er schritt mal hierhin, mal dorthin aus, ohne Ziel. Jeder, in dessen Nähe er torkelte, versuchte dem Körperkontakt auszuweichen.
Ich erinnere mich an ein Hochgefühl, das vor vielen Jahren eingesetzt hat, und das am stärksten war, als ich moralisch am Tiefpunkt war. Wie konnte ich mich so täuschen? Wie konnte ich so blind sein und mich meiner Sehkraft rühmen?
Der ICE kam auf den Bahnhof zu, das Gesicht des Alten klarte auf, seine Schritte gewannen an Kraft. Er näherte sich der Kante, das erkannten die anderen und erschreckte sie bis zur Lähmung. In wenigen Sekunden würden sie Dinge sehen, die sie aus Horrorfilmen liebten. Sie würden wissen, wie sie mit diesen Bildern in der Realität zurecht kämen und doch nichts mit diesem Wissen anfangen wollen.
Und es handelte sich nur um Sekundenbruchteile, und der Alte berührte die Schnauze des Zugs, und einer, ein Türke, hatte sich doch gefasst und den Alten gepackt. Der Zug bremste, riss den Alten noch ein Stück mit sich, der hatte den sicheren Bahnsteig nie unter den Füßen verloren und schlitzte sich nur ein bisschen das Gesicht auf. Der Zug stand, und Schultzberg sagte mit blutenden Lippen: »Mein Gott. Das wird teuer.«
Vorbereitungen
Die Zeitschriften lagen den ganzen Tag in der Wohnung herum und sendeten ihre verfluchten Signale an Birne. Katharina räumte auf, nicht einmal eine einzelne Socke fand Birne jemals an dem Platz, an dem er ihn zu späterem Gebrauch abgelegt hatte, immer war alles wieder in neue Ordnung gebracht. Nur die Zeitschriften, die blieben liegen, zum Teil in aufgeschlagenem Zustand. Sie zeigten zufällig Vorbeilaufenden wie Birne Wohnungsmöblierungsideen, Bekleidungsideen, Schmuckideen. Eine Menge Dinge, deren Besprechung Birne aus dem Weg ging, sich in sogenannter Arbeit zerwühlend. Es ging um einen Termin für die Show und letztlich darum, wie und vor allem wie groß sie aufgezogen werden sollte. Birne sagte: »Mir ist das zu viel Ego. Einen ganzen Tag nur wir zwei im Mittelpunkt, das ertrage ich einigermaßen, wenn wir allein sind, einem oder gar 100 Fremden will ich das nicht zumuten. Wenn wir keinem sagen, warum wir sie eingeladen haben, alles Entscheidende heimlich durchgezogen haben und zum Offiziellen nur immer einen Schnaps entkorken, wenn einer wagt zu fragen, was das soll. Wie findest du das?«
Es gab Traditionen da, wo man herkommt. Hier gab es einen Clash der Traditionen. Es ist unvermeidlich, wenn Kulturen sich treffen, hier die männliche, auf der anderen Seite die weibliche. Das Aufeinandertreffen der Kulturen soll deshalb nicht vermieden werden, oft, wenn nicht meist, entsteht dabei was Neues, Drittes, Aufregendes. Die Traditionen akkumulieren und zwei, drei Generationen kommen weiter, die Einzelnen dagegen zu gar nichts mehr eigenem, weil sie ausschließlich im Erfüllen von Traditionen ihren Alltag verbringen, wo doch jedem zumindest ein Rest eigenes Leben zustehen müsste. Da darf man es doch mal richtig krachen lassen und pfeifen auf alles, was vor einem war und neu anfangen, zu unbekannten Ufern aufbrechen, oder?
Man soll es, wie vieles andere auch, einfach machen und nicht dauernd reden. Vom Reden kommt nichts. Die schönsten Ideen, so vage als Gedanken im Kopf, was man noch machen könnte für die Unsterblichkeit, kaum ausgesprochen und vom Gegenüber wieder und wieder zerpflückt und abgewogen – es bleibt davon nichts mehr, was einen noch so weit enthusiasmieren könnte, dass man loslegen will. Alles ist auf einmal so naja, wenn wir darüber gesprochen haben und wir sitzen wieder in der Küche an unserem Tisch, auf dem Sofa vor unserem Fernseher, unter der Dusche und ihrem Strahl und warten auf den nächsten Einfall, der uns auftriebe. Er kommt, fühlt sich aber schaler an als der letzte, womöglich weil wir ahnen, was aus ihm werden wird.
Katharina saß da, blätterte, merkte ein, notierte, arbeitete allein an diesem Projekt, das Birne und sie für immer zusammenketten würde.
»Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, sagte er.
»Was?«
»Denk doch auch an das Geld.«
»Es ist ein einziger Tag im Leben, der
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