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Alpenlust

Alpenlust

Titel: Alpenlust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willibald Spatz
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einbilden, andererseits kannten sie ihn ja nicht, egal, wo sie jetzt waren.
    Zwei Reihen weiter war Tanja. Birne sah sie an einer alten Frau vorbeigehen, die ihren fetten Hintern beim Gießen der Totenblumen unter einem blauen Samtrock versteckte. Birne konnte sich nicht vorstellen, dass Tanjas Körper einmal eines fernen Tages dem der gießenden Alten ähneln könnte. Er konnte sich ebenso nicht vorstellen, dass er selbst einmal dort ruhen könnte, nur wenige Meter entfernt vom fröhlichen Knirschen des weißen Kieses unter pietätsfernen Schuhsohlen. Tanja schaute zu ihm herüber. Sie hatte ihn bemerkt, wollte sich aber noch einmal mit einem wachsamen Blick vergewissern, dass wirklich er es war und nicht einer, der ihm an Gestalt, Kleidung und Unauffälligkeit in der Erscheinung auf die Entfernung zum Verwechseln ähnlich war. Birne ärgerte sich. Durch so etwas Unbedachtes konnten sie auffliegen und mitsamt ihrem schön-schlauen Plan nach Hause tingeln.
    Nichts geschah. Sie verbrachten ihre Arbeitszeit zwischen Grabsteinen, sie wanderten umher, sie setzten sich auf Ruhebänke, sie kamen sich nie nahe, sie achteten aber darauf, dass sie sich nicht verloren, sie glaubten nicht mehr an den Erfolg ihrer Aktion, sie begannen ihre Umgebung zu mögen.
    Es gab Männer dort. Sie saßen auf einer Bank und tranken Bier. Sie waren laut, weil sie die Aufmerksamkeit der wenigen anderen hier wollten. Sie diskutierten wild über die Beschissenheit der Welt im Großen und wie sie sie im Kleinen dazu geführt hatte, dass sie hier saßen und nicht anderswo ihr Geld zählten und sich nicht die Nase mit Kokain puderten. Birne stufte sie als harmlos ein, beobachtete sie ein bisschen, aber nicht sehr. Tanja mied die Männer. Verständlich, sie war ein junges, hübsches Ding und musste sich zumindest auf Verbalanmachen einstellen, wenn sie den Biertrinkern zu nahe käme. Aber vielleicht war der Gesuchte doch darunter? Man konnte nie wissen.
    Birne schaute sich die Herren noch einmal genauer an.
    Tanja saß währenddessen nicht weit von ihnen und las in Dostojewskis ›Der Idiot‹. Das war kein Teil der vereinbarten Tarnung, sie las das, weil es ihr gefiel. Birne war beeindruckt. Dostojewski. Geil. Sie hatte so einen schwarzen kleinen Rock an und die Beine in schwarzen Strümpfen übereinander geschlagen. Und schwere Stiefel mit ein wenig Pelz am Saum. Komisch. Und sie las Dostojewski mit blauen Augen, die über die Zeilen wanderten, die dezent, fein, hervorgehoben waren mit schwarzer Schminke. Ein bisschen Vamp, ein bisschen unzüchtig.
    »Was liest du denn da, schöne Frau?«
    Das war einer der Trinker. Birne war zwar in der Nähe, aber das brachte nichts, Tanja konnte sich selbst wehren, sie konnte ihm mit einem gezielten Tritt die Eier auf die nächste Grabplatte knallen lassen. Aber dieser runde kleine Affe im Karojackett mit grauer Halbglatze und schwerer Schnapsnase war nun aufs Spielfeld getreten und kostete Zeit. Er musste irgendwie geschlagen werden, ohne auffällig zu werden.
    »Schöne Frau, was lesen Sie da? Ich hab Sie höflich was gefragt, schöne Frau.«
    Tanja blickte erst jetzt auf und dem Mann direkt ins Gesicht. Das konnte der kaum aushalten. Er suchte unter seinen buschigen zersausten Brauen den Boden und erkannte doch, dass ihm keine Möglichkeit blieb, zu fliehen. Schließlich hatte er gefragt, was sie las, deswegen musste er wenigstens auf eine Antwort warten. Birne konnte es auf die Entfernung nicht riechen und war sich dennoch sicher, dass Tanja gerade Schnapsgeruch zu ertragen hatte.
    Die Antwort bot dem Subjekt wieder keinen Vorwand, sich zurückzuziehen, sie lautete knapp: »Dostojewski.«
    »Oh, die Russen«, erwiderte der Mann und setzte sich mit einem Ruck neben die schöne Polizistin. »Haben Sie schon mehr von ihm gelesen?«
    »Alles. Ich bin gerade beim zweiten Durchlauf.«
    »Beim zweiten Mal?« Der Arm des Manns wanderte vorsichtig hinter der Banklehne zu Tanjas Schulter.
    Scheiße, dachte Birne, weniger, weil er Tanja ernsthaft in Gefahr sah, mehr, weil er – in Gedanken konnte er es ja zugeben – eifersüchtig war. Der alte Schnapssack!
    Ein Zweiter von den alkoholischen Brüdern näherte sich der Bank, er gönnte dem ersten seinen Triumph nicht. Er hatte sich nicht allein vorgewagt trotz des vielen Fusels in seinem Körper, aber als Zweiter hoffte er jetzt, den Abräumer zu machen. Er sah jünger aus, war sehr groß und hatte wirre graue Haare. Er war mager und ging leicht vornübergebeugt in

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