Alpenlust
Flaschen, ein Spiegel. Birne sah mitgenommen aus, sprießender Bart, dreckiges Hemd, verrissene Hose, gerötete Augen, er musste baden. Er starrte sich ins Gesicht, drei Sekunden. Er gefiel sich nicht, er schüttelte den Kopf und drehte ihn zur Tür. Kein Schatten, niemand draußen. Leise trat er vor, schnaufte durch und öffnete die Tür einen Spalt. Frische Luft, heißer Tag. Freie Sicht. Gegenüber am Straßenrand ein blaues Auto, die Polizei. Sie waren noch da, sie beobachteten. Birne schloss die Tür und erschrak. Es bestand die Möglichkeit, dass sie nichts bemerkt hatten.
»Sie liegen auf der Lauer«, berichtete er Ben, der sich wieder fasste.
»Wir müssen unauffällig sein. Kommen sie hinten über den Garten rein? Wir müssen uns im Keller verstecken und leise sein. Ich räume meinen Dreck aus dem Wohnzimmer. Wir haben überall Kameras, ich kann sehen, ob sie kommen. Der Überwachungsraum ist im Keller, da bekommen sie nichts von uns mit. Da müssen wir hin. Von Nina werden sie auch nichts sehen und nichts hören. Wenn sie nicht versuchen hereinzukommen, können wir es schaffen. Wir können es schaffen.«
Birne war bereit, Ben musste nur das Signal geben. Ben zögerte. Warum zögerte Ben? Jede Sekunde, die sie jetzt vertaten, konnte das Ende bedeuten. Ben wollte das Ende, das hatte er gesagt, aber wollte er dieses Ende? Oder war ihm das Ende egal und nur wichtig, dass es endete?
Wertvolle Sekunden verstrichen, zweifellos. Eine endlose Minute. Noch lagen sie 1:0 in Führung und der Abschlusspfiff erfolgte nicht. Die endlose Minute, in der der Ausgleichstreffer fällt und der Sieg und die Hoffnung dahin sind. Diese endlose Minute verging. In dieser endlosen Minute konnte das Ende jede Sekunde eintreten und nicht das Ende sein, das sich irgendjemand wünschte außer dem Polizisten vielleicht, der eintrat und dieses Ende brachte, das er in dem Augenblick aufhörte sich zu wünschen, in dem ihn die letzte Kugel traf, die der Verbrecher noch in Freiheit abschoss, die letzte Kugel, die das Maß dann vollmachen und das Fass überlaufen lassen würde. Diese Minute verging, niemand kam, aber die Haustür wurde geöffnet, keineswegs gewaltsam, mit einem Schlüssel, daran bestand kein Zweifel.
Eine Stimme sagte: »Keine Ursache, Sie können gern reinkommen und sich umsehen.«
»Danke, das wird nicht nötig sein«, antwortete eine andere Stimme. »Wir haben noch viel vor uns, wir kommen nicht hin, wenn wir in jedem Wohnzimmer die Sesselkissen umdrehen.«
Ein Lachen der ersten Stimme. »Das sehe ich ein, da kommen Sie bis heute Abend gerade die Straße runter und der Verbrecher sieht Sie und verduftet zwei Straßen weiter, da hat er dann Ruhe bis übermorgen.« Beiderseitiges Lachen.
»Sie halten bitte die Augen offen. Mit denen, die wir suchen, ist nicht zu spaßen. Die sind hochkriminell , die haben Waffen und schon einen umgelegt. Einen total Unschuldigen, der einfach das Pech hatte, ihnen über den Weg zu laufen.«
»Ich hab’s gelesen. Ich hab’s gelesen. Und ich hab’s gehört. Die Zeitungen sind voll davon. Im Büro reden sie von nichts anderem mehr. Und das bei uns. Zwei Herren und eine leichte Dame. Unheimlich, die Vorstellung, dass ich die Tür hinter Ihnen schließe, in mein Wohnzimmer spaziere und da sitzen sie und halten mir eine Waffe an die Schläfe.«
»Da würd ich mir mal keine Sorgen machen, dass das passiert. Wir gehen Hinweisen nach, die besagen, dass sie hier in der Gegend ein festes Quartier bezogen haben. Schon länger. Also, wenn Ihnen nicht aufgefallen ist, dass in Ihrem Keller seit ein paar Jahren Mädchen gefangen gehalten werden, dann können Sie heute ruhig schlafen. Dann wird Ihnen heute wahrscheinlich keiner mehr eine Waffe an die Schläfe halten.«
»Na wenn’s hübsche Mädchen waren, wär mir das bestimmt aufgefallen.« Wieder Lachen. »Und Sie sagen, seit Jahren? Das ist ja Wahnsinn, dass wir seit Jahren mit einem Monster in unserer Nachbarschaft leben und nichts davon mitbekommen.«
»Was erzählen Sie mir da? Das ist mein täglicher Job als Streifenpolizist. Was glauben Sie, wie oft wir in einen Wohnblock gerufen werden, weil es hinter einer Tür seit Tagen unerträglich stinkt. Und wir brechen die Tür auf und der alte Mann oder die alte Dame fault vor sich hin und das seit Wochen. In die Badewanne gestiegen, Herzschlag bekommen oder ausgerutscht beim Einseifen. Manchmal läuft die Wanne über, wenn das Wasser noch eingelassen wurde. Dann gibt’s einen Schaden, es
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