Alptraum-Sommer
gefangen und fragte mit leiser Stimme: »Kommt sie denn?«
»Ich verspreche es dir!«
»Wie sieht sie aus?«
»Sie ist wunderschön, Kelly.«
»Wie schön.«
»Wie die Sonne so hell und klar. Sie kommt aus der Märchenwelt zu dir. Sie ist eine wunderschöne Elfe oder Fee. Du wirst sie liebhaben, wenn du sie siehst.«
»Ja, das möchte ich auch«, flüsterte der Junge. Er unterstrich die Antwort durch ein kräftiges Nicken.
Die Alraune reckte sich. »Dann geh bitte hinein«, flüsterte sie. »Dieses wunderschöne Gebüsch ist dein Bett. Es wird weich wie Daunen sein, du kannst dich darin nur wohl fühlen. Dort legst du dich hin und wartest auf die Prinzessin.«
Kelly zögerte noch. Mit einer Geste der Verlegenheit strich er über sein Gesicht. Für einen winzigen Moment erschrak er, denn seine Haut fühlte sich so anders an. So rauh und hart, als wäre sie von einer Paranußschale gebildet.
Plötzlich bekam er Angst.
Wie von einem kalten Schauer wurde er damit überschüttet. Ein Anflug von Kälte durchtoste ihn. Er hatte Angst. Vor ihm verwandelte sich die Pflanze plötzlich in dunkle, menschenfressende Schlangen, als wollten sie ihm ein Zeichen für die Zukunft setzen.
»Geh, Kelly, geh!«
Die Stimme der Alraune riß ihn aus seinem Sekunden-Alptraum hervor, und er nickte.
Bevor er der Aufforderung nachkam, strich er noch einmal über sein Gesicht.
Unter seinen Fingern befand sich eine glatte Kinderhaut. Von einer Schale war da nichts mehr zu spüren, und er glaubte, daß er zuvor möglicherweise einem Irrtum verfallen war.
Der Junge streckte die Arme aus, bis die Handflächen über die ersten, schräg nach unten wachsenden Blätter des Strauchs streiften. Sie fühlten sich so herrlich weich an, gleichzeitig fleischig und trotzdem fest, so daß sie sein Gewicht bestimmt tragen würden.
Sie hingen an gebogenen Stengeln, die auch die Blätter trugen. Für den Jungen waren die Stengel Stangen, an denen er sich festhalten und sich auch in die Höhe schwingen konnte. Er packte zu.
Kaum gab der Stengel nach, so daß Kelly es wagte, einen Klimmzug zu versuchen.
Es klappte.
Schon immer war er gut und sicher geklettert. Dieses Training machte sich hier bemerkbar, und so bereitete es ihm keine Schwierigkeiten, höher zu klettern und sich dem Zentrum des mächtigen Busches zu nähern, der zu seinem Wartebett werden sollte.
Er kletterte weiter hinauf. Dabei hatte er das Gefühl, unter sich einen weichen, nachgiebigen Teppich zu spüren, der aber sein Gewicht immer hielt.
Dann kroch er vor.
Sein Blick fiel auf das Zentrum des ausladend wachsenden Busches. In dessen Mitte befand sich so etwas wie eine Mulde, ein übergroßer Blütenkelch. Ohne daß man ihm einen Befehl gegeben hätte, bewegte er sich kriechend darauf zu.
Unter ihm federte der weiche Boden. Grelle Blumen umwuchsen ihn. Sie strahlten in einer tiefroten und auch sehr gelben Farbe. Manchmal berührten Schatten sein Gesicht. Die Schmetterlinge flogen so dicht an ihm vorbei, daß er manchmal von den Rändern ihrer bunten, filigranen Flügel gestreift wurde.
Es kam ihm vor, als wollten ihn diese Tiere durch Liebkosungen willkommen heißen.
Eine wilde Vorfreude durchwehte ihn, als er seinen Platz endlich erreicht hatte.
Ja, es war das Zentrum.
Es war die Mitte.
Es war sein Bett, sein Platz, um auf die Dinge zu warten, die unweigerlich folgen würden.
Lange genug hatte sie sich Zeit gelassen. Mehr als hundert Jahre, da mußte sie einfach kommen.
Die Prinzessin, seine Prinzessin!
Er lag auf dem Rücken, hielt die Arme ausgestreckt, so daß sie zwischen den weichen Blättern verschwanden. Ein Lächeln umwehte nicht nur die Lippen des Jungen, es lag auch wie ein feiner Sonnenschein auf seinem Gesicht und gab etwas von der großen Vorfreude wider, die er empfand.
Die Sonne schien.
Nicht mehr so heiß und so grell, als daß ihre Strahlen seine Haut verbrannt hätten. Nein, sie waren nun weich, sie liebkosten sein Gesicht und auch den Körper. Er fror nicht, obwohl er nur seine Unterhose trug.
Die Pflanze war warm, in ihrer Mitte fühlte er sich geborgen wie in einem sicheren Schoß.
Die Zeit war nicht mehr wichtig. Kelly wußte jetzt, daß seine Prinzessin erscheinen würde und all das wahrmachte, was er sich erträumt und ersehnt hatte.
Er lag da und wartete…
Der Junge hörte sein eigenes Herz überlaut schlagen. Jedes Pumpen hinterließ in seinem Kopf ein Pochen, manchmal schloß er auch die Augen, weil er sich dann besser auf die
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