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Alptraumland

Alptraumland

Titel: Alptraumland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Ronald M. und Pukallus Hahn
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Brief auf Anhieb ansiehst, bin ich unterdessen in London eingetroffen. Trotz meiner Vorliebe für das britische Imperium und seine aristokratische Erhabenheit muß ich Dir unverblümt erklären, daß die englischen Großstädte mir so wenig behagen wie die amerikanischen.
    Schon Liverpool, eine überwiegend schäbige, völlig verbaute, durch Industrie- und Hafenanlagen aller Art sowie Elendsviertel, bevölkert von einem Proletariat, dem unauslöschlich Rotz und Schmutz der Armut im Gesicht kleben, verunstaltete Ansammlung verrußter Mauern und Steinschluchten, allesamt durchdrungen vom allgegenwärtigen Gestank nach Fisch, erweckte bei mir solches Mißbehagen, daß es mich heilfroh stimmte, im dortigen Hauptbahnhof umgehend Anschluß zur Hauptstadt zu erhalten.
    Die Eisenbahnfahrt immerhin verlief ohne Zwischenfälle, und obwohl ich gehörig vor kühler Zugluft auf der Hut sein mußte, hatte ich doch angenehme Gesellschaft. Ich durfte die Wohltat erleben, mit mehreren Gentlemen, deren Interesse dem Zeitungslesen galt, im selben Abteil zu sitzen und mit ihnen die gesamte Strecke bis London in vollkommenem Schweigen zuzubringen. Dabei habe ich von den Strapazen der Ozeanüberschiffung die segensreichste Erholung auskosten können. Aber dann London! Fast ermangeln mir die Worte, um Dir mein Grauen zu beschreiben. Vielleicht ist es angemessen, für den Moment, als ich am gestrigen Spätnachmittag im Bahnhof King’s Cross aus dem Zug stieg, zum Vergleich Dantes Inferno zu bemühen. Das Dröhnen und Fauchen der Maschinen sowie das Gewimmel und Stimmengewirr der Menschen hatte alle Aspekte eines Höllenpfuhls, in dem Verdammte in Mühlen zerkleinert werden. Es schien mir, als hätte ich mich in eine gewaltige Fabrikhalle verirrt. Und ich wäre nach Verlassen des Bahnhofs unter Garantie in dieser Metropole, die fast 7 Millionen Einwohner hat, in der ein Kraftfahrzeug hinter dem anderen durch die Straßen rattert, an allen Ecken Mob mit Schildern Streiks verkündet, rettungslos verloren gewesen, hätte nicht vor dem Hauptausgang schon ein Automobil des britischen Außenministeriums auf mich gewartet.
    Ach, wie sehne ich mich schon jetzt zurück ins gute, alte Providence mit seinen türmchenreichen georgianischen Villen, alten Dächern, großen Kuppeln, weißen Kirchen, engen Gäßlein voller bernsteingelber Butzenscheiben und schmiedeeisernen Geländern, seinen verwitterten Friedhofsmauern, den Markthallen und dem Roger Williams-Park, seinen Teichen und Blumengärten. Ja wahrhaftig, Du siehst, Providence ist für mich ein Paradies, das immerzu, geradeso als wäre ich Sisyphos, wiedererrungen werden muß. Aber nun gilt’s, das Abenteuer zu bestehen. Nach meinem verstörten Innenleben im allgemeinen und der Verfassung meiner empfindsamen Nerven im besonderen fragte mich nämlich ohnedies niemand bei meiner Ankunft in dem britischen Babylon. Vielmehr kutschierte der Chauffeur mich ins Royal Albion Hotel, wo man eine passable Unterkunft für mich reserviert hatte. Ich kann Dir nicht verschweigen, daß es das Personal ein wenig befremdete, einen Gentleman mit einem einzigen Koffer eintreffen zu sehen, aber du kennst meine spartanische Bescheidenheit und weißt, daß ich mir nur einen Anzug halte, also gab es keine Abhilfe. Ich tat jedoch alles, um trotzdem einen gesitteten Eindruck zu erwecken.
    Am folgenden Morgen hatte ich um 9 Uhr einen Termin im Außenministerium, zu dem ich mich, wie Du Dir denken kannst, auf die Minute pünktlich einfand.
    Sir Mycroft Holmes lohnte mir meine Verläßlichkeit, indem er mich unverzüglich empfing. Du mußt Dir einen durch das Alter sowohl stämmig im Körperbau wie auch am Haupthaar silbergrau gewordenen Arier-Hünen mit buschigem Backenbart und gleichartigen Brauen vorstellen, dessen Ausstrahlung unendlicher Gemütsruhe und Souveränität sofortiges Vertrauen einflößt. Er begrüßte mich mit einem Händedruck und sehr herzlichen Worten, und bald hatten wir uns in eine unverbindliche Plauderei darüber vertieft, wie sehr wir uns doch darin ähnelten, solche Stubenhocker zu sein, ich an meinem Schreibtisch, und er im Ministerium. Ich bekannte, in einer Polis wie London niemals wohnen zu können, sondern das Daheimsein in einem Städtchen wie Providence, wo das Lokalblatt Jahr für Jahr nichts Aufregenderes berichtet, als daß es im Vorstand des Schachvereins abermals keine Umbesetzungen gegeben hat, mich mit gründlicher Zufriedenheit und stillem Glück erfüllt. Daraufhin gestand mir

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