Alptraumland
Gegend stammt? Sie stammt aus London, Sir. Abgesehen von meinem Onkel Stephen, der dieses Anwesen erwarb, war meine Familie hier nie ansässig.« Nun war Angus Robertson an der Reihe, seiner Verblüffung Ausdruck zu verleihen. Ich sah förmlich, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Konnte er es wagen, einen nicht unwichtigen Klienten seines anwaltlichen Bruders über die Historie seiner eigenen Familie zu belehren, ohne ihn zu brüskieren?
»Sie … müssen sich irren, Mr. Ashton«, sagte er dann mit leiser Stimme. »Die Ashtons haben schon im dreizehnten Jahrhundert auf diesem Grund und Boden gelebt. Das weiß hier jedes Kind.«
»Unmöglich!« Ich schüttelte den Kopf. Was ging hier vor? Ich hatte nicht die geringste Ahnung von dem Gesagten. Nicht einmal mein Vater hatte je ein Wörtchen über eine schottische Abstammung unserer Familie verlauten lassen.
»Falls ich die Geschichte richtig deute«, fuhr Robertson gelassen fort, »befindet sich Ashton Manor, zu dem in früheren Jahrhunderten übrigens eine Burg gehörte, die irgendwann zerstört oder abgerissen wurde, seit dem Jahre 1281 im Besitz Ihrer Familie. Sie hat das Anwesen bis zum Jahr 1822 bewirtschaftet und ist dann nach London gezogen. Der Besitz ging an eine Familie McCormick, die jedoch um die Jahrhundertwende ausstarb, da sie keinen männlichen Erben mehr hervorbrachte. Stephen Ashton hat es im Jahre 1900 mit seinem in Kanada erworbenen Vermögen zurückgekauft, also vor dreiundzwanzig Jahren. Die Geschichte des Anwesens ist durchgehend urkundlich belegt, Mr. Ashton. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen die genauen Daten irgendwann zeigen.« Mir schwindelte. Ich hatte in der Tat nichts von dieser Angelegenheit gewußt. Robertsons Worte weckten meine Neugier. Wenn Ashton Manor der Stammsitz unserer Familie gewesen war, wieso hatte niemand davon gewußt? Mein Vater war 1860 geboren worden, achtunddreißig Jahre nachdem man das Anwesen abgegeben hatte. Hatte sein Vater ihm nie erzählt, wie es dazu gekommen war? Wenn ja, wieso hatte Onkel Stephen als einziger davon erfahren? Und warum hatte er meinen Vater nie ein Sterbenswort davon geschrieben? Wir hatten keinen blassen Schimmer vom Wohlstand unserer Vorfahren gehabt.
Die Rückkehr James Robertsons und McGilligans lenkten mich jedoch von meinen Gedanken ab. Ich nahm mir vor, sobald ich genug Zeit hatte, den Stammbaum meiner Familie näher zu erforschen. »Um die baugeschichtliche Kontinuität zu wahren«, schlug McGilligan mir vor, »sollten Sie mir die Erlaubnis geben, Sir, verschiedene Anbauten des Hauses abzureißen. Die unterschiedlichen Besitzer Ashton Manors haben sich leider nicht immer von klugen Architekten beraten lassen, wenn sie An- und Umbauten vornahmen.«
Nachdem er mir erklärt hatte, welche Anbauten er meinte, erklärte ich mich einverstanden.
»Es stellt sich freilich das Problem geeigneter Arbeitskräfte«, wandte ich ein, nachdem wir alles besprochen hatten. »Aus der Umgebung wird uns wahrscheinlich niemand helfen.«
Der Architekt, der ebenfalls aus Glasgow stammte, maß mich mit einem erstaunten Blick, und Angus Robertson erklärte ihm, was er mir nicht hatte darlegen können, da wir das Thema gewechselt hatten: daß die Ashtons ihr Land in früheren Jahrhunderten mit grausamer Härte und äußerster Willkür regiert und die leichtesten Vergehen der Landleute unbarmherzig bestraft hatten. Sie hatten offenbar alles getan, um den Namen unserer Familie zu etwas zu machen, auf das sich noch heute der gesamte Haß der Umgebung konzentrierte.
»Wie absurd«, rief ich, als er fertig war. »Die Zeiten, in denen der Adel die Bauern noch peinigen konnte, sind doch seit hundert Jahren vorbei. Kein normaler Mensch kann eine Familie hassen, weil sie sich vor hundert oder zweihundert Jahren wie die Axt im Walde aufgeführt hat. Es wäre ein ebensolcher Unsinn, als würde man die Italiener von heute für die Untaten der Cäsaren verantwortlich machen.«
McGilligan war ganz meiner Meinung. Angus Robertson zuckte die Achseln. Sein Bruder James, der Rechtsanwalt, sagte gar nichts; er erweckte allerdings den Eindruck, als sei ihm die Geschichte ungeheuer peinlich. Wir kamen schließlich überein, daß McGilligan sich um eine Kolonne tüchtiger Arbeiter bemühen sollte, die die nötigen Umbauten noch vor Herbstbeginn in Angriff nehmen sollten.
3. Kapitel
Aus dem Schriftwechsel H.P. Lovecrafts
mit Frank Belknap Long
London, 12. August 1923
Lieber Frank,
wie Du meinem heutigen
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