Alptraumland
nicht nur aus Menschen, die sich für Napoleon oder sonstige Feldherren halten und Schlachten auf dem Papier ausfechten. Bei diesen Patienten handelt es sich oft um Personen, die nie im Leben Soldat waren und deren Aufmarschpläne keinen Schuß Pulver wert sind. Manche Geistesgestörte haben allerdings eine geradezu ungeheure Phantasie. Der Fall Ashton ist nicht der erste, in dem es darum geht, daß jemand behauptet, mit Lebewesen Umgang zu pflegen, wie sie sich Phantasten von der Sorte Mr. Lovecrafts ausdenken …
THORNHILL: Darf ich davon ausgehen, Dr. Mortimer, daß auch Sie mit Mr. Lovecrafts Werk vertraut sind?
MORTIMER: Nur teilweise, Sir. Nachdem ich erfuhr, wer bei dieser Untersuchung außer mir als Zeuge auftritt, habe ich natürlich Erkundigungen über die Beteiligten des Falles eingezogen.
THORNHILL: Mit welchem Ergebnis?
MORTIMER: Daß ein in meiner Klinik tätiger Praktikant mir einen Stapel schreiend bunter, amerikanischer Schundheftchen mit geschmacklosen Umschlagillustrationen vorlegte, die er, wir er mir gestand, in seiner Freizeit zur Unterhaltung zu schmökern pflegt. Ich habe mir die Freiheit genommen und einige der von Mr. Lovecraft verfaßten Geschichten gelesen.
THORNHILL: Zu welchen Erkenntnissen sind Sie bei dieser Lektüre gelangt?
MORTIMER: Dieses zweifelhafte Vergnügen hat mir die Einsicht vermittelt, daß Mr. Lovecraft sich in geradezu unverantwortlicher Weise jugendverderberisch betätigt. In seinen Schauergeschichten – die übrigens auch in sprachlicher Hinsicht jeder Beschreibung spotten – wimmelt es von monströsen Lebewesen, die in unterirdischen Kammern hausen, Leichen verzehren, sich die Menschen mit Hypnose gefügig machen und es darauf anlegen, die Welt zu erobern. Mr. Lovecraft entblödet sich nicht, in seinen Geschichten die völlig idiotische Behauptung aufzustellen, diese Monstrositäten, die er nicht selten auch als Gottheiten bezeichnet, seien in grauer Vorzeit aus dem Weltall zur Erde gekommen …
THORNHILL: Dr. Mortimer, als Beamter Seiner Majestät und Cambridge-Absolvent kann ich Ihren Unmut über diese Art der literarischen Betätigung zwar verstehen, doch im Interesse der Sache muß ich Sie darauf hinweisen, daß der Ausschuß hier nicht tagt, um schriftstellerische … ähm … Ergüsse zu analysieren. Zudem ist zu berücksichtigen, daß Mr. Lovecraft trotz seines für normale Menschen wenig nachvollziehbaren Drangs, Schauergeschichten zu schreiben, keineswegs als eine Art geistiger Gesinnungsgenosse Mr. Ashtons vor dem Ausschuß steht, sondern vielmehr als Zeuge, weil er selbst Opfer der Gewalttätigkeiten Mr. Ashtons wurde. Wollen wir ihm glauben, ist es Mr. Lovecraft ausschließlich dank seines ungemein hochentwickelten Orientierungssinns gelungen, ohne Licht aus den geheimnisvollen Gewölben unter den Grundmauern der einstigen Zwingburg Ashton Castle den Weg zurück an die Erdoberfläche zu finden. Andernfalls hätten wir vielleicht nie von all den greulichen Vorkommnissen erfahren.
MORTIMER: Verzeihen Sie, Sir. Dessen bin ich mir natürlich bewußt.
THORNHILL: Um so besser, Dr. Mortimer. Mr. Lovecraft wird Ihnen die harsche Kritik an seinem Werk, wenn ich ihn recht verstanden habe, wohl kaum verübeln, da er es offenbar nicht weniger geringschätzt als Sie, aber nun müssen wir wieder zur Sache kommen.
MORTIMER: Ja, Sir.
THORNHILL: Was für ein Fall ist Mr. Roderick Ashton Ihres Erachtens, Dr. Mortimer?
MORTIMER: Da Sie, wie Sie bei der Vernehmung des zweiten Akademikers in der Zeugenrunde zum Ausdruck gebracht haben, wenig von den Fachausdrücken unserer Zunft halten, Sir, möchte ich Ihnen in der Weise antworten, die Sie offenbar bevorzugen: Mr. Roderick Ashton hat nicht alle Tassen im Schrank.
THORNHILL: Ich schätze Ihre klare Ausdrucksweise sehr, Dr. Mortimer. Wie deuten Sie die Äußerungen, die Mr. Roderick bezüglich der Entstofflichung seines Körpers ausgestoßen hat, als Sergeant Corcoran ihn festnahm?
MORTIMER: Diese irrsinnige Vorstellung hat sich so in seinem Hirn festgesetzt, daß wir ihn keinen Augenblick lang unbeobachtet lassen dürfen.
THORNHILL: Warum nicht?
MORTIMER: Weil Mr. Ashton seitdem mit unheimlicher Hartnäckigkeit auf die Entstofflichung seines Körpers hinwirkt. Anfangs ist er ein-, zweimal sich selbst überlassen worden. Infolgedessen besteht er praktisch nur noch … aus dem Rumpf. Er hat keine Arme mehr, und nur noch ein halbes Bein. Wir mußten ihn in eine Zwangsjacke stecken und an eine Pritsche schnallen.
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