Alptraumland
verarbeiteten Fallgeschichten aus der kriminalistischen Praxis zu Weltruhm emporgestiegenen Bruder kennenlernen würde, setzte er eine sehr tiefsinnige, leicht trübselige Miene auf, so daß ich das definitive Gefühl hatte, ein ihm unliebsames Thema angeschnitten zu haben. Augenblicklich wollte ich einen Rückzieher machen und schickte mich an, ihn in der wohlerzogensten, höflichsten Weise um Entschuldigung zu bitten.
»Nein, Mr. Lovecraft«, sagte Sir Mycroft jedoch zu mir, indem er mir vertraulich, um mein Mißbehagen zu lindern – und daran merkst Du einmal mehr, daß er ein wahrer Gentleman ist –, eine Hand auf die Schulter legte (ich muß gestehen, diese Berührung kam so unerwartet, daß ich unwillkürlich zusammenzuckte), »es verhält sich beileibe nicht so, daß Sie mit Ihrem Wunsch einen Faux pas begehen oder ich dafür kein Verständnis aufbringe. Immerhin gilt mein Bruder ja längst in aller Welt – und nicht etwa unverdient – als eine Art Wundertier. Aber leider ist er« – (hier atmete Sir Mycroft tief durch, als fielen die nächsten Worte ihm unsäglich schwer) – »nicht mehr der Alte. Eine Begegnung mit ihm wird Ihnen womöglich eine Enttäuschung bereiten.«
Ein trauriges Lächeln unterstrich seine Befürchtung.
Ich beteuerte ihm, das sei vollkommen ausgeschlossen. Meine Bewunderung für den famosen britischen Detektiv ließe keine kleinlichen Gedanken zu.
»Ich versichere Ihnen«, erklärte ich Sir Mycroft, »daß das hohe Alter Sir Sherlocks höchstens dazu beitragen kann, meine Bewunderung zu vertiefen. Sollte indessen seine gesundheitliche Verfassung es als Rücksichtslosigkeit erscheinen lassen, ihn mit einem Besuch zu behelligen, nehme ich selbstverständlich ohne Klage davon Abstand.«
»Das ist nicht nötig«, erwiderte Sir Mycroft mit ungewohnter Knappheit. Offenbar hatte er eine Entscheidung getroffen. »Wir haben Sie um eine Gefälligkeit ersucht, Mr. Lovecraft«, fügte er hinzu, während er mich zur Tür begleitete. »Es ist nur billig, wenn wir auch Ihnen eine Gunst erweisen, zumal wenn es sich um einen so bescheidenen Wunsch handelt.«
Er sagte noch, man würde mich am folgenden Tag um 14.30 Uhr vom Hotel abholen.
Zum Abschied schüttelte er mir ein zweites Mal die Hand. Vermutlich hat er zuviel Umgang mit deutschen Diplomaten.
Wenn ich Dir schreibe, mein lieber Junge, daß ich mich nach dieser Zusage in Hochstimmung befand, ist es kaum eine Übertreibung, und ich fühlte mich in diesem Moment für viele vorangegangene Vorkommnisse der Reise entschädigt, die mich …
DIE AUSSAGE DES HARRY F. GRENDON
Leiter des Verhörs:
Superintendent Roger Thornhill, Scotland Yard
THORNHILL: Mr. Grendon, bitte informieren Sie den Ausschuß in kurzen Worten über Ihr bisheriges Leben, damit er sich ein Bild von Ihnen machen kann.
GRENDON: Gern, Sir. Ich heiße Harry Grendon. Ich bin von Geburt Amerikaner. Ich kam am 20. Dezember 1856 in San Francisco zur Welt. Mein Vater war Verleger einer kleinen Wochenzeitung in Oakland, Kalifornien. Nach dem Ende der High School bin ich erst mal von zu Hause ausgerissen, um mir den Wind um die Nase wehen zu lassen. Ich bin zwei Jahre zur See gefahren, und …
THORNHILL: Bringen Sie mir bitte Verständnis dafür entgegen, Mr. Grendon, wenn ich Sie ersuche, Ihre zweifelsfrei hochinteressante Lebensgeschichte ein bißchen zu verkürzen. Leider ist unsere Zeit begrenzt.
GRENDON: Klar, Sir, schon gut. Machen wir’s also kurz. Ich war zuerst als Leichtmatrose tätig, später nahm ich einen Job bei der Fischereipatrouille in der Bucht von San Francisco an. Um die Jahrhundertwende hab’ ich dann einen Burschen kennengelernt, der für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften schrieb. Er riet mir, meine Erlebnisse auf See und bei der Fischereipatrouille aufzuschreiben. Das hab’ ich dann getan, und …
THORNHILL: Bitte, Mr. Grendon …
GRENDON: Die Sachen wurden veröffentlicht. Nach kurzer Zeit kriegte ich einen Job beim San Francisco Chronicle, der mich 1905 als Korrespondent nach London schickte. Ich verbrachte ein paar Monate in der Hauptstadt, dann erhielt ich die Gelegenheit, eine Wochenzeitung im Norden Schottlands zu kaufen. Das hab’ ich dann gemacht, und seitdem leb’ ich hier.
THORNHILL: Vielen Dank, Mr. Grendon. Wie war der Name dieser Zeitung?
GRENDON: Sie hieß The Flying Scotsman, Sir.
THORNHILL: Aber sie existiert nicht mehr?
GRENDON: Nein, Sir. Ich mußte sie 1918 einstellen. Der Konkurrenzdruck durch die
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