Alptraumland
weil es nach dem Abzug der Maurerkolonne genügend im Haus zu tun gab und ich mein Zimmer kaum noch verließ. Dorothy brachte mir die Mahlzeiten. Stunden tiefsinnigen Grübelns folgten Zeitspannen völliger Untätigkeit, in denen ich wie besinnungslos vor mich hinstarrte. Manchmal erwachte ich am hellichten Tag, fand mich am Fenster wieder und wurde mir bewußt, daß ich keine Ahnung vom Verlauf der vergangenen Stunden hatte.
Ich hatte die Regale (mehr oder weniger wohl wie in Trance, denn ich erinnere mich nicht mehr daran) inzwischen wieder mit den Büchern gefüllt. Ich achtete sorgfältig darauf, daß ich keine Spuren hinterließ. Niemand durfte erfahren, daß es das Geheimzimmer gab. Die Furcht, daß Perkins und die anderen mich hier allein ließen, machte mich allen Menschen gegenüber mißtrauisch. Ich fühlte mich bespitzelt, glaubte in jeder Handbewegung, jedem Lächeln und jedem Achselzucken Anzeichen einer geheimen Verständigung meines Personals zu sehen.
In einem meiner wenigen klaren Momente erkannte ich, daß es keinen anderen Weg gab, als Hilfe zu suchen. Mein Freund Howard fiel mir ein. Überwiegend hatten wir lediglich briefliche Verbindung aufrechterhalten, uns nur wenige Male persönlich gesehen, standen uns also eigentlich nicht so nahe, daß ich unter herkömmlichen Umständen die Beziehung mit überhöhten Anforderungen belastet hätte. Doch die Umstände waren nicht normal; ich war eindeutig in eine bedrohliche Ausnahmesituation geraten.
Wenn irgendwer mir in dieser Klemme beistehen konnte, dann am wahrscheinlichsten Howard. Er hatte ein gründliches Gespür für alles Abseitige, Übernatürliche, Krankhafte – und auch, obwohl er selbst es gar nicht merkte, das Schlüpfrige –, und zudem umfassende Kenntnisse der einschlägigen Literatur. Sonst jedoch hatte er ein schlichtes Naturell und zeigte sich jederzeit hilfsbereit. Für einen in Armut abgesunkenen Bekannten aus dem Umfeld des Amateurjournalismus hatte er einst sogar seinen Zweitanzug geopfert und ihm, obwohl vom früheren Patrizier-Wohl stand seiner eigenen Familie längst nichts mehr übrig war und er pro Woche mit einer läppischen Handvoll Dollar auskommen mußte, sogar ein wenig Geld geschickt. Ich benötigte dringend Hilfe. Ich brauchte einen Freund. Ja, Howard war der richtige Mann. Und wenn ich ihm einen Betrag für die Schiffspassage übermittelte – und noch etwas zulegte –, konnte er bestimmt nicht widerstehen. In spätestens vierzehn Tagen könnte er bei mir sein. Falls seine Tanten ihn gehen ließen. Howard mußte her. Ich schickte Perkins mit dem Wagen nach Glasgow und trug ihm auf, ein Blitztelegramm, dessen Text ich ihm in einem verschlossenen Umschlag mitgab, nach New York aufzugeben. Außerdem veranlaßte ich ihn, Howard telegraphisch das Reisegeld für den schnellsten Dampfer sowie eine zusätzliche Summe für Auslagen zu überweisen. Aber gleichzeitig begriff ich, daß bis zu Howards Eintreffen noch eine Menge passieren konnte. Vielleicht war es bis dahin für mich zu spät. Ich mußte bis zu Howards Ankunft – für die Übergangszeit – eine Zwischenlösung finden. Also fällte ich den Entschluß, einen Facharzt aufsuchen, am besten einen Psychiater. Immerhin bestand ja die Möglichkeit, daß er mir nicht nur vorübergehende Linderung verschaffen, sondern mich von der seelischen Erschütterung heilen konnte, von der ich nicht wußte, wie sie sich zu meinem Unheil weiterentwickeln mochte.
6. Kapitel
Aus dem Schriftwechsel H.P. Lovecrafts
mit Frank Belknap Long
Ashton Manor, 18. August 1923
Sei gegrüßt, mein lieber Junge!
Mittlerweile bin ich am Endziel meiner Reise angelangt und habe auf Ashton Manor eine völlig neu renovierte Zimmerflucht beziehen dürfen. So weit, so gut. Alles übrige ist, gelinde ausgedrückt, weniger erfreulich. Aber eins nach dem anderen.
Ich will es Dir ersparen, Dir in aller Ausführlichkeit die Gemeinheit des hiesigen Landlebens oder die Umstände und Beschwernisse der Fahrt von Glasgow zu Freund Ashtons Herrensitz zu schildern. Teils konnte ich Automobile, teils hingegen mußte ich, um morastige Landstriche oder unwegsames Dickicht zu durchqueren, alte Pferdekutschen benutzen. (Ich fühlte mich unliebsam an Jonathan Harkers Reise durch die Karpathen zu Graf Draculas Schloß erinnert – Du kennst Bram Stokers Roman Dracula und verstehst daher, was ich meine.) Die von Alligatoren wimmelnde und von Malaria verseuchte Everglades-Grassumpfwildnis der Halbinsel
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