Alptraumland
Kreuz in die Brust geätzt worden war und um eine strangulierte Frau, der man die Augen ausgestochen und die Zunge herausgeschnitten hatte. Beide hatte man erst viel später als Lord und Lady Barlow identifiziert. Mir blieb vor Schreck beinahe das Herz stehen. Lord und Lady Barlow hatten auf Ashton Manor gelebt, und Onkel Stephen mußte sie gekannt haben. Die restlichen Zeitungsmeldungen handelten von mehreren Dutzend vermißten Mädchen und Frauen aus ganz Schottland. Ich muß gestehen, daß mich bei dieser Lektüre ein unheimliches Gefühl beschlich. Warum hatte Onkel Stephen all diese Zeitungsausschnitte gesammelt? Aus kriminalistischem Interesse? Aus einem obskuren Faible für das Abwegige? Die Verbrechen, die die Zeitungsausschnitte schilderten, waren dermaßen abscheulich, daß sich mir schon bei der Lektüre der Magen umdrehte.
Ich fragte mich nun mehr denn je, ob mein mir unbekannter Onkel womöglich etwas noch schlimmeres als ein gewöhnlicher Mörder gewesen war. Hatte er die Ausschnitte aufbewahrt, um sich an den Folgen seiner scheußlichen Untaten zu weiden? War er in Wahrheit ein Massenmörder gewesen? Hatte er all die unaussprechlichen Taten begangen, die ich in dem Album dokumentiert fand?
Man konnte diese Möglichkeit nicht einfach ignorieren. Sein Charakter wurde mir immer unverständlicher. Wieso hatte er meinen Eltern nie mitgeteilt, wie reich und mächtig unsere Familie einst gewesen war? Woher hatte er es überhaupt gewußt? Hatte mein Vater es etwa auch gewußt? Hatte er es mir absichtlich verschwiegen? Wenn ja, warum? Welches Geheimnis umgab die Ashtons, die ihren Besitz 1822 aufgegeben hatten und nach London gezogen waren, um schließlich 1880 in die Staaten auszuwandern? Was bedeuteten all diese abstoßenden Bücher über Hexerei, Satanismus, Geheimbünde und Schwarze Magie? Onkel Stephen war ein Ungeheuer gewesen. Zu diesem Zeitpunkt war ich von seiner verbrecherischen Vergangenheit hundertprozentig überzeugt. In den folgenden Nächten wurde ich von Alpträumen heimgesucht, die an Gespenstischem alles bisherige weit in den Schatten stellten. Mehr als einmal fuhr ich schweißnaß und wimmernd aus dem Bett empor. Die Nacht, so hatte ich den Eindruck, schien plötzlich Augen zu haben. Ich hörte es an allen möglichen und unmöglichen Orten knistern, knacken, rascheln und wispern. Rote Augen starrten aus den Vorhängen und Wänden auf mich hinab; ich glaubte ständig Schritte zu hören. Es kam so weit, daß ich es nicht mehr wagte, aus dem Bett zu steigen, weil ich mir nicht mehr sicher war, ob der Fußboden mich trug oder sich spaltete und ich in eine stinkende, schleimige Tiefe hinabsänke. Mein Zustand verschlechterte sich so sehr, daß ich befürchtete, vor einem Nervenzusammenbruch zu stehen. Des Morgens sah ich übernächtigt und zerschlagen aus. Zwar mußte mein Zustand dem Personal und den wieder an die Arbeit zurückgekehrten Bauarbeitern auffallen, doch niemand wagte mich zu fragen, was mir fehlte. Ich wiederum wagte es nicht, diese unerklärlichen Ängste vor meinen Zeitgenossen auszubreiten.
Statt dessen verkroch mich in der Bibliothek, um das Geheimzimmer zu finden. Auch übten die mysteriösen Bücher einen ungewöhnlich morbiden Reiz auf mich aus. Beim Ausräumen der Regale schaute ich mir mancherlei Abbildungen an, wobei mir bisweilen schier die Haare zu Berge standen.
Als die Hälfte des Regals geleert war, entdeckte ich endlich die Geheimtür. Ich war gerade im Begriff, noch ein Buch herauszunehmen, als ich hinter einem dicken Folianten mit dem Titel Fressende Leichname in hölzernen Särgen eine Art Klingelknopf entdeckte.
Ich betätigte ihn. Das Regal, vor dem ich stand, setzte sich knarrend nach innen in Bewegung. Im Laufe der Zeit hatten die Scharniere wohl gelitten. Die Tür öffnete sich um etwa zehn Zentimeter und verharrte dann, so daß mir keine andere Wahl blieb, als sie mit Muskelkraft weiter aufzuschieben.
Da ich davon ausging, einen finsteren Raum vorzufinden, der ohne Licht und ohne Fenster jahrzehntelang im Dunkel gelegen hatte, nahm ich wohlweislich eine Taschenlampe mit. Ich behielt recht. Die Kammer, die sich vor mir auftat, klaffte so finster und so schwarz wie die Hölle. Sie verströmte einen unmenschlichen Gestank, der mir auf der Stelle Brechreiz verursachte.
Die Taschenlampe flammte auf. Der Lichtkegel traf die gegenüberliegende Wand und tastete sie ab. Mein Herzschlag drohte auszusetzen, als ich erkannte, was den abscheulichen Gestank
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