Alptraumland
Tätlichkeiten und Anschlägen nur knapp entgehen können. In Nachbarorten hätte sich Mob gegen ihn zusammengerottet. Seinen Worten zufolge leidet er unter gräßlichen Alpträumen. Noch will ich die Möglichkeit nicht ausschließen, daß ihn lediglich eine Form des Verfolgungswahns ereilt hat. Wenn nämlich das, was er zu mir äußert, wahr ist, und ich gezwungen bin, es mit dem zu kombinieren, was ich in der Glasgower Stadtbibliothek über seine Vorgänger auf Ashton Manor gelesen habe, dann bin ich an eine Stätte des Grauens verschlagen worden, der ich lieber ferngeblieben wäre, weil hier überirdische Mächte auf die Erde einwirken und im flüchtigen Dasein der Menschen Verderben und Verhängnis säen, denen kein Sterblicher entrinnen kann. Dann könnte es sein, mein lieber Frank, daß wir uns nie wiedersehen. Ich höre Ashton nebenan in den Räumen seiner Bibliothek kramen. Höchstwahrscheinlich hat auch er sich längst in die Ahnenforschung vertieft. Ich frage mich, wie ihm dabei zumute sein mag. Die Geräusche sind von unheimlicher Befremdlichkeit. Ich muß unwillkürlich an das Geraschel und Gekratze von Ratten denken. Vielleicht handelt es sich aber auch wirklich um Ratten. So altgediente Gemäuer können von Ungeziefer keinesfalls frei sein, und es ist möglich, daß durch die Restaurierungsarbeiten derlei Getier aufgescheucht worden ist. Infolge der tiefen Ermüdung, zu der die anstrengende Fahrt nach Ashton Manor bei mir gefühlt hat, fällt mein Brief auch diesmal kürzer als gewohnt aus. Ich bitte Dich um Entschuldigung, mein lieber Junge, aber ich muß erst einmal alles überschlafen. Möglicherweise kann ich die Dinge schon morgen mit Ashton in der gebotenen Gründlichkeit erörtern, so daß ich alles klarer durchschaue. Meine Briefe müssen ja neuerdings auf Dich reichlich verworren wirken.
Herzlich grüßt Dich
Dein Howard
DIE AUSSAGE DES DR. PERCY GRAHAM
Leiter des Verhörs:
Superintendent Roger Thornhill, Scotland Yard
THORNHILL: Dr. Graham, gehe ich recht in der Annahme, daß man Sie als den besten Freund des verstorbenen Dr. Redgrave bezeichnen kann?
GRAHAM: Ja, Sir.
THORNHILL: Und Sie hielten sich, wie ich aus dem Protokoll ersehe, das Sie bei der Polizei in Glasgow unterzeichnet haben, an dem Tag zufällig in der Praxis Ihres Freundes auf, als Mr. Roderick Ashton sich um Hilfe an ihn wandte?
GRAHAM: So ist es, Sir. Dr. Redgrave wollte am nächsten Tag verreisen – nur für einige Tage allerdings, wegen einer Familienangelegenheit. Er hatte mich gebeten, ihn in der Zwischenzeit zu vertreten, deswegen wollte er mir noch einige Fälle erläutern.
THORNHILL: Und so kam es, daß Sie zum Zeugen der ersten Begegnung zwischen Mr. Roderick Ashton und Dr. Redgrave wurden?
GRAHAM: In gewisser Weise, Sir. Ich befand mich im Nebenraum, als Mr. Ashton die Praxis betrat, da ich mich in einige Krankenakten vertiefen wollte. Außerdem ist es unüblich, einen Patienten mit psychischen Problemen zu zweit zu befragen, wenn man ein Vertrauensverhältnis zu ihm herstellen will.
THORNHILL: Ach so. Aber Sie konnten von Ihrem Platz im Nebenraum hören, was sich in der Praxis zugetragen hat?
GRAHAM: Ja, Sir. Die Tür war nur angelehnt. Und außerdem haben Dr. Redgrave und ich nach dem Fortgang Mr. Ashtons über seinen Fall gesprochen.
THORNHILL: Schön, Dr. Graham. Darf ich Sie nun bitten, uns zu schildern, welchen Eindruck sie von dem Patienten hatten?
GRAHAM: Gewiß, Sir. Als Mr. Ashton in die Praxis kam, die im übrigen bereits seit einer Viertelstunde geschlossen war, befand er sich in einem Zustand hochgradiger Erregung, die er allerdings zu verschleiern trachtete. Ich hatte schon nach wenigen Augenblicken des Zuhörern das Empfinden, daß ihn eine gewaltige seelische Krise schüttelte und er unter starkem inneren Druck stand.
Ich nahm an, er könnte möglicherweise ein Verbrechen begangen haben, das er nicht zu verkraften vermochte. Daß er dringend Hilfe benötigte, war unüberhörbar, auch wenn er so tat, als seien ihm die Gründe seiner nervlichen Anspannung unbekannt. Im Grunde genommen wirkte er eigentlich ziemlich sympathisch …
THORNHILL: Hatten Sie von Mr. Ashton das Gefühl, er sei ein Geisteskranker, Dr. Graham?
GRAHAM: Nun, Sir, ich kann mich zwar rühmen, seit zwanzig Jahren in meinem Beruf tätig zu sein, aber … Abgesehen von einem ausgesprochenen Idioten, den jeder Laie diagnostizieren kann, unterscheiden sich die meisten Geisteskranken auf den ersten Blick nicht
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