Als das Leben ueberraschend zu Besuch kam - Roman
es zu begreifen.«
Nane wusste nicht, ob er mit »das alles« die Abreise seiner Frau, die tausend Kilometer durch die Loire oder seine sechsundsiebzig Jahre meinte oder vielleicht sogar noch etwas anderes. Die alte Frau nahm seine Hand und drückte sie sanft. Marcel strahlte Nane an. Auch sie verstanden sich.
52
Der Herbst hatte noch nicht begonnen, doch es war so kalt wie an einem Novembertag. Wie an allen Tagen seit dem Sommer – sogar bei schlechtem Wetter – trainierte Marcel auch an diesem Tag wieder vor der Küste der Ile d’Yeu mit seiner Trainerin, der sechsjährigen Monette. Obwohl er überhaupt gar keine Erfahrung mit Kindern hatte, fand er, dass dieses kleine Mädchen aus ihm nicht nur einen außergewöhnlichen Sportler, sondern auch einen hervorragenden Großvater machte.
An der Plage des Vieilles warteten eine kleine Filmcrew von France 3, ein Journalist von »Neptun FM« und einer vom »Courrier de l’Ouest«. Alle standen zitternd am Strand und verloren allmählich die Geduld. Ein paar Schaulustige hatten sich zu der Gruppe gesellt. Bruno schlang die Arme um Arminda und Matthis, die dicke Fleecejacken trugen. Matthis’ Augen strahlten vor grenzenloser Bewunderung. Nane, deren Hände durch die Arbeit mit dem Meißel aufgerissen waren, beobachtete die Szene von weitem. Sie saßauf dem Parkplatz in ihrem alten R5 im Warmen. Als der Schwimmer endlich aus dem Wasser stieg, wurden die Kameras eingeschaltet und die Blitzlichter aktiviert. Nane sagte sich, dass dieser Mann ihrem Vater sicherlich gefallen hätte. Von Marcels Körper tropfte eiskaltes Wasser. Er lächelte die Versammelten mit violetten Lippen an, als die Produzentin ihm einen Geburtstagskuchen überreichte und sich verzweifelt bemühte, die Kerzen anzuzünden.
Das war die Schlüsselszene der Reportage: Der Schwimmer, der plante, allein den Atlantik zu überqueren, feierte heute seinen siebenundsiebzigsten Geburtstag. Ein sensationelles Bild: Marcel, der vor dem Hintergrund des aufgewühlten Meeres in einem Neoprenanzug mit den Logos seiner Sponsoren am Strand stand, blies die unzähligen Kerzen aus. Wenn es nur nicht so windig gewesen wäre. Wenn es ihnen nur gelingen würde, diese verdammten Kerzen anzuzünden, schimpfte die Produzentin, die mit dem Feuerzeug kämpfte.
Schließlich versammelten sich alle rund um den Kuchen, um ihn vor dem Wind zu schützen, und endlich brannten die Kerzen. Film ab! Herzlichen Glückwunsch! Auf den Displays der Digitalkameras und auf den Monitoren der Fernsehcrew strahlte Marcel wie ein junger Held. Von Vorfreude erfüllt, entschlossen und angetrieben von allen Männern, die er gewesen war, und mitgerissen von dem Mann, der er noch nicht war, bereitete er sich auf seine einsame Atlantiküberquerung vor. Und als er sich anschickte, die Kerzen auszupusten, kam Zephyr, der schelmische Wind, der durch den Wald rauschte, an den Dachpfannen rüttelte und die Röcke hochwirbelte, undblies die Kerzen aus.
Und welcher Wind blies in die Triebwerke der Boeing 747 von Paris nach New York, als eine Flugbegleiterin einem alten Mann dabei behilflich war, sich auf seinen Sitz in der Economy-Klasse zu setzen? Auf der Bordkarte stand »Paul Charon«. Er steckte sie in seine kleine Ledertasche zu der Einladung zum astrophysischen Symposium. Dann las Paul noch einmal den Brief, in dem man ihm zu der Entdeckung der Supernova 2009Sd gratulierte. Schließlich verkündete der Flugkapitän die bevorstehende Landung, und Pauls Herz begann laut zu klopfen. Ehe er die Ledertasche schloss, blickte er zum x-ten Mal auf die Rückseite eines Kodak-Fotos, wo die Adresse der Buchhandlung von Eugene und Cindy in Greenwich Village stand. Er drehte es um und schaute in den Wind hinaus. Vielleicht war es derselbe, der auf der anderen Seite des Atlantiks hartnäckig an dem beigefarbenen Unterrock einer alten Französin zerrte. Er blies und blies, doch der Unterrock bewegte sich keinen Millimeter.
Jacquelines Kleid hingegen flatterte heftig in der Brise. Sie stand auf der Brücke der Fähre, schlang den Regenmantel um ihren Körper und drückte den Fotoapparat an sich, während sie auf Staten Island schaute, das sich entfernte, und auf die Freiheitsstatue in der Mitte, die trotz des Unwetters unerschütterlich blieb. Dann wandte sie ihren Blick Manhattan zu, das sich näherte. Manhattan. Es war ein alter Traum, doch die Begeisterung, diesie verspürte, war ganz neu.
Und als ihr die Haarsträhnen ins Gesicht flogen und sich ihr Blick an
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