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Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman

Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman

Titel: Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raimund August
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dann, als ob das nicht reicht, stirbt auch noch die Mutter … Was habt ihr denn dann bloß gemacht?“
    „Man hörte immer noch den Kanonendonner in der Ferne. Ich wußte, daß wir unbedingt weiter mußten. Schon am Abend hatte ich in einer Tüte etwas Zucker gefunden und in einer Blechbüchse einen Rest Haferflocken, den ich in die Tüte mit dem Zucker schüttete und einsteckte.“ Sie blickte auf den Sand zu ihren Füßen und schüttelte den Kopf. „Viel Zeit zu trauern hatten wir einfach nicht“, sagte sie schließlich. „Auch meinem kleinen Bruder war inzwischen klar geworden, daß unsere Mutter nicht mitkommen konnte. Er weinte ein bißchen. Wir deckten sie gut zu, beteten noch einmal an ihrem Bett und verließen das Haus.“
    „Und du, hast du denn nicht geweint?“
    „Nein“, sagte sie, „nein, das habe ich viel später nachgeholt, aber so, daß niemand es merkte, denn reden konnte ich darüber noch nicht, auch nicht über den Tod meines kleinen Bruders, der wohl an Entkräftung starb. Aber erst mal gingen wir los, hinaus aus dem Dorf auf die Landstraße. Diese Straßen im Winter, diese Alleen werde ich nie vergessen. Und daneben die Telegrafenmasten und die vereisten Drähte bis ins ferne Reich wie ich meinte und wie die Leute gesagt hatten. Das Reich, dort wollten wir hin.“
    „Du meine Güte“, sagte Sebastian, „Du warst damals acht, dein Bruder vier. Ich stelle mir das vor: zwei kleine Kinder auf der Straße in einem menschenleeren Land und Schnee, soweit das Auge reicht.“
    „An Vögel erinnere ich mich noch“, sagte sie, „schwarze Vögel. Es waren Krähen. Meinen kleinen Bruder zog ich an der Hand mit mir. Er sagte bald gar nichts mehr. Es wurde immer schwerer ihn mitzuziehen. Und meine Hoffnung war auf die große Chaussee gerichtet, von der die Leute geredet hatten und auf Pferdegespanne, die einen vielleicht mitnehmen konnten. Weißt du“, sagte sie und sah ihn dabei von der Seite an, „uns machte der Schnee zu schaffen, Schnee, der ziemlich hoch lag und die Straße bedeckte, so daß man sie oft nicht von den Feldern unterscheiden konnte, wenn da nicht die Stämme der Alleebäume gewesen wären. Und dann die Schneewehen quer über die Straße, die uns manchmal fast den Weg versperrten. Es fuhren auch keine Wagen, die den Schnee niedergewalzt hätten.“
    „Wie lange mußtet ihr euch denn noch durch den Schnee quälen?“
    „Nicht mehr sehr lange“, antwortete Gisela. Und nach einer kurzen Überlegung: „Aber auch wieder lange genug, bis zum Nachmittag mit vielen Pausen. Ich kann heute nicht sagen, wie weit das war, wie viele Kilometer. Aber ich erinnere mich noch ganz genau, wie ich plötzlich in der Ferne ein Gespann auftauchen sah, so einen Planwagen, direkt aus dem Schnee. Heute würde ich sagen“, und dazu lachte sie kurz, „also wie eine winterliche Fata Morgana. Lautlos tauchte da so ein Wagen auf. Mir blieb vor Schreck, Erleichterung und Freude fast das Herz stehen. Und dahinter dann noch so ein Wagen und ein dritter und vierter. So wie sie aufgetaucht waren, langsam und lautlos, verschwanden sie auch wieder, einer nach dem anderen. Und das Land lag wieder da, eben und weiß bis an ferne dunkle Waldränder.
    Wieder erschrak ich. Angst war da. Mein Bruder hatte die Wagen nämlich nicht gesehen. Ein Stück entfernt liefen Krähen über den Schnee und auch sie verschwanden plötzlich. Vielleicht, dachte ich, vielleicht waren das gar keine Planwagen gewesen, sondern Krähen, die hinter einer Schneewehe verschwunden waren wie gerade eben die Krähen dort vor uns. Ich zerrte meinen Bruder weiter, los, wir müssen nachsehen. Da ganz hinten, sagte ich zu ihm, da sind Pferdewagen gewesen, ganz bestimmt, ich habe sie doch gesehen. Ich mußte mich vergewissern, dabei war mir sehr bange zumute. Schließlich erreichten wir eine flache Anhöhe und erkannten von dort aus einen Wagentreck in der Ferne, beide sahen wir ihn. Man konnte die große Chaussee einsehen, die Chaussee ganz offensichtlich, von der die Leute geredet hatten und die ins ersehnte Reich führte. Ein Treck zog dahin, mehrere Wagen hintereinander. Dahinter aber kam nichts mehr. Panik packte mich. Vielleicht waren das die letzten Wagen, die dort auf der Chaussee ins Reich fuhren und die wir nicht mehr erreichen konnten.“ Gisela lachte. „Reiche“, sagte sie, „Reiche kannte ich nur aus Märchen, König- und Elfenreiche und so … Etwas ähnliches mußte es doch mit dem Reich, in das alle unbedingt wollten und in

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