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Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman

Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman

Titel: Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raimund August
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Nicht nur hinter uns, sondern jetzt auch vor uns seien überall die Russen. Wir mußten wieder zurück und von der großen Chaussee herunter. Jetzt kamen uns auch Trecks entgegen und alle mußten wir in eine Straße abbiegen, die zum Haff führte, wie es hieß. Nur dort käme man noch mit Schiffen heraus.“
    „Keine Straße mehr ins Reich?“ fragte Sebastian.
    „Keine Straße mehr“, bestätigte Gisela. „Und dann wurde es erst richtig schlimm“, sagte sie. „Als wir uns dem Haff näherten, um auf die Frische Nehrung zu gelangen, wurden wir von russischen Tieffliegern angegriffen. Wagen wurden zusammengeschossen, verletzte Pferde schrien, andere gingen durch und schleuderten die Wagen hinter sich her, Leute flogen heraus und schlugen auf dem hartgefrorenen Boden auf. Oft blieben sie liegen, Kinder und alte Leute.
    Und dort vor dem Haff starb auch mein kleiner Bruder ganz unauffällig. Der Kutscher, ein französischer Kriegsgefangener, begrub ihn rasch ein Stück von der Straße entfernt im Schnee. Wir durften ja nicht anhalten. Hinter uns staute sich Wagen an Wagen soweit man sehen konnte. Es ging nur im Schrittempo voran. Schließlich kam das zugefrorene Haff. Es rumpelte hohl, als der Wagen über’s Eis fuhr – ich habe dieses Geräusch noch deutlich im Ohr“, erklärte Gisela. „Ein beängstigendes Geräusch“, sagte sie. „Und der Tod meines Bruders hatte mich doch sehr getroffen. Ich war wie benommen. Allein, dachte ich, jetzt bist du ganz allein.
    Es war ganz unwirklich, wenn aus den herabhängenden grauen Wolken die Tiefflieger hervorstießen. Ich saß auf dem Wagen und sah das alles unter der Plane hervor wie in einem Film, in dem ich mitspielen mußte. Und dann das anschwellende Rauschen über uns, das lauter wurde, ganz schnell anschwoll und ohrenbetäubend Eis und Wasserfontänen aufsteigen ließ. Eisbrocken prasselten gegen die Plane, die Pferde wieherten auf, auch sie wurden ja von herumfliegenden Eisbrocken getroffen. Immer wieder Bomben, überall wurde die Eisdecke zerschlagen und fror über Nacht wieder zu.
    Gespanne, die auf dies dünne Eis gerieten, brachen ein und versanken ganz rasch mit Pferd und Wagen und den Menschen darauf. Das Schreien der Pferde war zu hören, wenn der Wagen sie mit in die Tiefe riß. Von den Menschen hörte man selten Schreckensrufe, alles ging viel zu schnell. Zwei Gespanne sah ich so versinken. Später, als wir über die Nehrung fuhren, konnte man bald Schiffe erkennen, ein paar kleinere und ein großes. Die Ostsee war ja nicht zugefroren. Die Schiffe lagen dort in einem Hafen, ich weiß nicht genau, wo das war.
    Die Frauen liefen zu den Schiffen, um zu erfragen, wie man dort mitkommen könne. Pferde und Wagen, das war dann schnell klar, mußten in jedem Falle stehen gelassen werden. Ich mochte unsere tüchtigen Pferde inzwischen sehr und die sollten nun da bleiben in Eis und Schnee, ohne ihre Leute, die sie kannten und die sie bis zur Erschöpfung dort hingebracht hatten. Es gab Wagen, die hatten auch Hunde mit, sicher geliebte treue Tiere, von denen man sich nicht hatte trennen wollen. Auch die durften nicht mit auf die Schiffe und mußten zurückbleiben.
    „Also, das muß ich dir sagen“, erklärte Gisela und nickte, „es spielten sich dort Geschichten ab, die man nie vergessen kann. Es kann ja Leute geben, die denken, was ist das schon, Pferde und Hunde … Ich werde aber nie so einen braunweißen Jagdhund vergessen. Als seine Leute auf’s Schiff gingen, drängte er sich dicht an sie, wollte mit. Sie redeten auf ihn ein, jagten ihn dann zurück. Der Hund wollte das nicht glauben. Schließlich lief er wieder hinter seinen Leuten her. Dann nahm ihn einer von denen am Halsband und ging mit ihm zum dort stehenden Wagen, band ihn am Rad fest und kehrte rasch zum Schiff zurück. Der Hund zerrte am Strick, setzte sich schließlich in den Schnee, hob die Schnauze hoch in die Luft und ließ ein Heulen ertönen, daß mir die Tränen in die Augen stiegen. So was habe ich bisher nie wieder gehört. Möglich, daß auch seine Leute das bis zu ihrem Lebensende nicht vergessen werden. Und dann unsere Pferde, heimlich weinte ich.“
    Sebastian sah sie von der Seite an.
    „Ja“, sagte sie, „ich weinte.“
    „Ich glaub dir’s ja“, erklärte er.
    „Der Kutscher spannte sie völlig aus“, erzählte sie weiter, „gab ihnen Heu und schüttete ihnen den ganzen letzten Hafer vor. Wir fanden gerade noch Platz auf dem Deck eines kleinen Schiffes mit noch einer Menge

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