Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman
gut es ging und betete für ihn und vor allem für unsere Mutter, damit sie schnell wieder gesund werden sollte. Es war ja, so dachte ich, noch ein weiter Weg, der vor uns lag. Aber eine Vorstellung von der tatsächlichen Weite konnte ich mir natürlich nicht machen.
Mutter hatte gesagt, wir würden wohl drei Tage und zwei Nächte mit dem Zug unterwegs sein. Doch was das ohne den Zug bedeutete war mir überhaupt nicht klar. Auch wußte ich nicht, wo wir eigentlich hin wollten. Am nächsten Morgen, als die Verdunkelungsrollos an den Fenstern hochgezogen wurden, schreckte ich hoch mit der Vorstellung, daß es weitergehen mußte durch den elenden Tag da draußen. Es war wie ein Schlag und ich war hellwach, weckte meinen Bruder und wir suchten dann unsere Mutter, die in der Küche geschlafen hatte mit anderen Frauen neben dem Herd, in dem bereits wieder das Feuer brannte.
Erst heute wundere ich mich“, unterbrach Gisela ihre Erzählung und warf gedankenverloren ein paar Kiesel in die sacht auflaufende Brandung des Sees, „also über das Licht“, sagte sie, „das elektrische Licht, das noch überall brannte in den Häusern des Dorfes. Na ja“, sie winkte ab, blickte über den See, dessen Wellen im warmen Sonnenlicht glitzerten.
Sebastian ließ den feinen Sand durch die Finger rieseln und fragte nach einer Weile: „Wie ging’s denn dann weiter? Ihr seid doch noch weggekommen.“
„Wie man’s nimmt“, sagte sie. „Unsere Mutter fühlte sich sehr schwach. Es war schließlich gegen Mittag, als wir uns auf den Weg machten. Die anderen waren alle schon am Morgen losgezogen zu einer großen Chaussee. Ich hatte sie davon reden hören, daß die noch frei sein sollte bis ins Reich. Was und wo das Reich war, wußte ich zwar nicht, aber daß diese Chaussee wichtig war, das hatte ich schon verstanden. Mutters Rucksack ließen wir stehen, sie fühlte sich zu schwach ihn zu tragen. Und ich hatte mir noch ein paar Pellkartoffeln in die Manteltaschen gesteckt. Nachts war wieder etwas Schnee gefallen und so konnten wir darin nun deutlich die Fußspuren der Leute erkennen, die vor uns aufgebrochen waren.
Wir kamen aber nur langsam voran, mußten öfter mal Halt machen und auch die tiefen Schneewehen, die der Wind über die Straße getrieben hatte, bildeten Hindernisse, die unsere Mutter nur mühsam überwand. Ich ging immer voraus, um Spuren durch den Schnee zu treten. Mein kleiner Bruder mit seinen kurzen Beinen watete stets zuletzt hinterher. Und Dörfer, mußt du wissen, oft nur einige wenige Höfe, liegen in Ostpreußen weit auseinander. Ich trug eine wollene Strickmütze, die unter dem Kinn zusammengebunden wurde, ganz ähnlich auch mein Bruder. Unsere Mutter trug ein wollenes Kopftuch, das gleichzeitig noch ein langer Schal war. Alle drei hatten wir Fausthandschuhe, trugen dicke Wintermäntel und an den Füßen hohe Schnürschuhe. Und beim Laufen ging es auch mit den Temperaturen, aber wenn wir etwas länger stehenbleiben mußten, damit unsere Mutter sich ein wenig verpusten konnte, wie sie immer sagte, spürten wir die Kälte sehr bald, in den Füßen, im Gesicht und auch so.
Weil wir nur langsam vorankamen, mußten wir lange laufen, bis endlich Häuser auftauchten, wieder ohne die Bewohner, auch ohne Flüchtlinge. Nur die Kühe gab es, die man hörte und die wir nicht melken konnten. Ein bißchen was Eßbares fanden wir aber. Mutter legte sich gleich in eines der Betten. Ich bekam sogar das Feuer in der Küche an und auch im Schlafzimmer. Es wurde warm und wir konnten unsere Mäntel ausziehen. Ich erinnere mich, daß ich Tee in einer Büchse im Küchenschrank fand. Es war nur Kamillentee, doch durchfroren wie wir alle waren, tat uns auch ein heißer Kamillentee gut. Mutter konnte sich im Bett aber kaum noch aufsetzen. Am späten Nachmittag war es draußen schon dunkel und so war klar, daß wir über Nacht bleiben mußten. Mein Bruder und ich schliefen im Ehebett neben unserer Mutter.
Am nächsten Morgen, als ich die Rollos aufgezogen hatte, draußen war es bereits hell, wollte ich Mutter wecken, die, wie ich glaubte, noch fest schlief.
Als sie sich nicht rührte und ich sie schließlich anfaßte erschrak ich. Sie war ganz kalt, als ich sie verzweifelt herumzudrehen versuchte. Ich war einen Moment lang wie gelähmt …“
„Mann, o Mann“, sagte Sebastian, „kaum vorstellbar das Ganze. Und überhaupt, das war ja schon wie verhext: Zuerst fällt auf freier Strecke mitten im strengsten Winter der Zug aus und
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