Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman
das die große Chaussee dort führte, auch auf sich haben: ein helles, warmes, sonniges Land. So stellte ich mir das damals vor, ein wenig verschwommen sicherlich.“
„Ja, also wirklich“, warf Sebastian ein und richtete sich auf, „das kann man zwar nachfühlen, sich aber kaum vorstellen. Hier geht mir’s so wie dir damals“, und er lachte. „Wahrhaftig eine Tragödie: der Vater tot, im Krieg geblieben, die Mutter gerade eben auch noch gestorben und zwei kleine Kinder allein in dieser, wie du es beschreibst, weißen Unendlichkeit dort im Reich der Eisfee, aus dem die Erlösung mit dem Wagentreck in der Ferne entschwand?“
„Na ja, wir erreichten die Chaussee und gingen auf ihr weiter. Wenigstens erwies sich diese Straße als glatt gefahren. Wir mußten nicht mehr über hohe Schneewehen klettern, durch Pulverschnee, der dabei von oben in die Schuhe fiel und nasse Füße bescherte. Das war nämlich schlimm bei der strengen Kälte. Man mußte sich die feuchten Socken dann erst allmählich wieder trocken laufen. Mein kleiner Bruder klagte über schlimme Füße. Ich konnte doch aber nichts machen. Socken zum Wechseln hatten wir mit den Rucksäcken längst zurück gelassen.“
„Konntet ihr denn doch noch irgendwo mitfahren?“
„Na klar, sonst säße ich ja nicht hier.“ Dazu warf sie mutwillig eine Handvoll feinen Sands in die Luft. „Meine Angst bestätigte sich nicht“, sagte sie. „Es tauchte nämlich wieder ein Wagentreck auf und überholte uns. Wir mußten zur Seite treten, versanken dabei bis zum Bauch im Schnee, und ich winkte von dort den Wagenlenkern zu, die mit dem Peitschenstiel oder dem behandschuhten Daumen stets nach hinten wiesen. Ich nehme heute an, die wollten mit einem Halt nicht den ganzen Treck zum Stehen bringen, denn der vorletzte Wagen hielt an und der Kutscher, dick vermummt, eine Schirmmütze auf und darunter einen Schal um den Kopf gewickelt, sprang in Filzstiefeln vom Wagen. Etwas erstaunt sah er uns an. Der dachte wohl zuerst, wir gehörten zu einem vorausfahrenden Wagen, zu einem anderen Treck, und darüber wunderte er sich.
Er wollte erst gar nicht verstehen, daß wir allein waren. Keine Mutter, keine Verwandten? Unsere Mutter ist in einem Dorf gestorben, erklärte ich. Dann guckte die Bauersfrau unter der Plane hervor. Gib mir die Kinder hoch, sagte sie, man kann die doch nicht dort stehen lassen. An diese Rettung erinnere ich mich noch ganz genau“, sagte Gisela und nickte nachdenklich dazu. „Lange konnten und wollten die Wagen dort auch nicht halten, sie mußten ja weiter und wieder Anschluß an die vorausfahrenden finden. Es war ein trüber Tag und es würde bald dunkel werden. Heute bin ich mir ganz sicher, in dieser Nacht auf der Landstraße wären wir erfroren. Im Wagen, im Stroh unter der Plane, war es dann aber erstaunlich warm und neben der Bauersfrau gab es dort noch zwei ältere Frauen und ein paar Kinder, die uns im Dämmerlicht neugierig ansahen. Das jedenfalls war unsere Rettung – meine Rettung“, setzte sie nach kurzer Pause hinzu.
„Man fragte mich dann noch aus und ich erklärte alles, so gut ich konnte. Wir durften auf dem Wagen bleiben, bekamen auch zu essen und zu trinken und konnten in einer Ecke schlafen. Mir ging es bald besser, aber mein Bruder erholte sich nicht richtig. Er bekam Fieber, fing an zu husten, wollte auch bald nichts mehr essen. Wir übernachteten wieder in verlassenen Höfen. Dort konnten auch die Pferde untergestellt und gefüttert werden. Die armen Tiere liefen den ganzen Tag im Treck, mit vereisten Nüstern und zogen die schweren Wagen über verschneite und vereiste Straßen bei schneidendem Wind oder dichtem Schneegestöber.
Es gab auch Tage mit klarem Himmel und klirrendem Frost. Dann vergruben wir uns noch tiefer im Stroh. Über einem kleinen Spirituskocher wurden auf dem Wagen ein paarmal am Tage Tee und Malzkaffee gebrüht. Im heißen Tee löste die Bauersfrau ein bißchen Butter auf. Bei dieser Kälte müsse man ab und zu etwas Warmes zu sich nehmen und auch Fett brauche der Körper, meinten die Leute.“
Manchmal hielt Gisela im Erzählen inne, fuhr mit den Fingern durch den feinen Sand, auf dem sie saßen und blickte über den in der Sonne glitzernden See.
„Wann seid ihr denn nun“, fragte Sebastian nach einer Weile, „im Reich, wie du es nennst, angekommen?“
Gisela schreckte aus ihrer Versunkenheit auf und sah ihn an. „Angekommen? Das war sehr schwierig. Eines Tages hieß es, wir seien eingekesselt.
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