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Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman

Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman

Titel: Als der Kalte Krieg am kaeltesten war - Ein dokumentarischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raimund August
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Mutter, mein vierjähriger Bruder und ich. So trotteten wir in einer Reihe mit anderen Leuten, die zum Teil noch Koffer mit sich schleppten, durch den Schnee querfeldein. Jemand an der Spitze hatte eine Karte und meinte daher zu wissen, wo wir am schnellsten auf eine Landstraße treffen würden. Das geschah dann auch und die Chaussee war einigermaßen frei von Schnee und glatt gefahren.
    Es war ein grauer Tag. So ein Himmel, weißt du, der voller Schnee hängt, ganz tief die Wolken. Die Dämmerung kam schon früh am Nachmittag, als endlich hinter einem Wald ein Dorf auftauchte, unbewohnt, menschenleer. Weißt du, wie unheimlich so ein leeres Dorf ist? Auch wenn wir fast hundert Mann stark … ach was, Männer“, unterbrach sie sich mit einer wegwerfenden Handbewegung, „es waren alte Männer, die schwere Koffer schleppten, Mütter, die kleine Kinder trugen. Allmählich erst hörte ich das Brüllen der Kühe aus vielen Ställen, Kühe, die laut riefen, als sie Menschenstimmen hörten. Und da waren dann Hoftore, hinter denen da und dort auch noch Hunde bellten und jaulten, verlassene Hunde. Weißt du, wie verlassene Hunde klagen?
    Leute gingen in die Höfe, quartierten sich ein in den Häusern für eine Nacht. Und dazu, ich hab’s noch immer im Ohr, das ferne Grummeln und Rumpeln der Kanonen und dieses feurige Flackern über den schwarzen Waldrändern weit weg, das nicht aufhörte, mal lauter, mal ferner und das Flackern deutlicher, wenn es dunkler wurde.“
    „Ich kenne das“, unterbrach Sebastian und nickte eifrig. „Da will man schnell weiter, bloß weg, denkt man, bloß weg … jeder weiß ja, daß das ferne Rumpeln und Flackern eine schreckliche Bedrohung ist – apokalyptisch“, sagte er und ihm gefiel das Wort, das nach galoppierenden Reitern klang.
    „Ja, richtig“, erwiderte Gisela, „bloß weg, natürlich. Unserer Mutter ging es aber schlecht. Trotz der Kälte stand ihr der Schweiß auf der Stirn und mein kleiner Bruder trottete apathisch an ihrer Hand nebenher. Und überhaupt, das waren ja alles Leute, mußt du dir vorstellen – und jetzt im Nachhinein sehe ich das deutlich vor mir – die sich auf eine Eisenbahnfahrt vorbereitet hatten und in Berlin, Hannover oder Hamburg aussteigen wollten mit ihren Koffern, Taschen und Rucksäcken, nicht aber auf freiem Feld in kniehohem Schnee. Menschen, von denen manche Halbschuhe trugen und Mäntel, mit denen man eher, so sehe ich’s heute, in die Königsberger Oper ging als auf eine Flucht über vereiste Landstraßen.
    Wer von denen dort, Frauen, bepackt mit Taschen und kleinen Kindern, alte Männer mit schweren Koffern, konnte schon in einer ostpreußischen Winternacht über eine endlose Landstraße ziehen? Völlig ausgeschlossen für jeden dort... Die Angst vor den Russen, ganz klar, die Angst war da mit dem fernen Flackern hinterm Horizont. Aber die Angst in der Nacht auf der Straße zu erfrieren war ganz nah, viel näher als das Grollen im Rücken. Das begriff damals sogar ich, denn mit der einbrechenden Dunkelheit war auch ein Wind aufgekommen, der durch jede Kleidung schnitt. Vieles“, sagte sie nach einer Pause und sah Sebastian an, „vieles habe ich damals nicht so gesehen und begriffen. Heute muß ich oft daran denken. Ich erinnere mich und sehe alles ganz deutlich vor mir in vielen Einzelheiten, deren Bedeutung mir damals gar nicht bewußt war.
    Auch wir waren dann an der Dorfstraße in ein Haus gegangen. Andere Leute waren schon da. Zwei Frauen gingen mit Eimern, die sie in der Küche vorgefunden hatten in den Kuhstall, um die Kühe zu melken. Auch wir bekamen etwas Milch ab. Einige Männer mühten sich am Küchenherd beim Feuermachen. Und auch in der Stube daneben wurde der Kachelofen angeheizt. Holz und Kohle gab es genügend in der Küche. Ein bißchen Mehl in einer Blechdose war noch da und ein Steintopf mit Schmalz, das etwas ranzig roch und ein Sack Kartoffeln stand in einer Kammer neben der Küche. Mein kleiner Bruder bekam eine Mehlsuppe mit viel Milch und etwas Schmalz darin. Die Erwachsenen aßen Bratkartoffeln und ich von allem etwas wie die größeren Kinder.
    Wir schliefen in Decken dicht neben dem Kachelofen im Zimmer, der nochmal tüchtig angeheizt wurde. Es war warm und ich war froh, so untergekommen zu sein. Ich betete und bedankte mich dafür beim Herrn Jesus, den ich auf einem Bild an der Wand im Zimmer gesehen hatte, und auf dem er mit der Hand Kinder segnete. Mein kleiner Bruder lag dicht neben mir. Ich deckte ihn zu so

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