Als der Tag begann
keinen Regeln beugen musste und es keine zeitliche Begrenzung gab, wie lange ich schlafen durfte. Ich wachte inmitten von mehr als zehn anderen Menschen auf, die alle noch über den ganzen Raum verteilt auf Kissen und Matratzen schliefen. Die Sonne war kaum aufgegangen, die Wände der Wohnung mit Graffiti bemalt, überall Bierflaschen. Alle hatten die ganze Nacht durchgefeiert und sich gerade erst schlafen gelegt. In den meisten Nächten hatte ich meine Hausaufgaben im Treppenhaus erledigt – mein weißes Zeugnisblatt half mir, mich darauf zu konzentrieren – und mich von den anderen ferngehalten, um dem grässlichen Zigarettenqualm und den hartnäckigen Ablenkungsmanövern der Feiernden zu entgehen. Wenn das Ganze irgendwann nachts abebbte, schlüpfte ich zurück in die Wohnung, um in irgendeiner Ecke ein bisschen Schlaf zu kriegen. Ein paar Stunden später ging dann der Wecker los, weckte mich, und ich lag da, vollkommen still, und
starrte an die Decke. In diesem Augenblick war die Verlockung riesengroß, mir einfach die Decke über den Kopf zu ziehen und wieder einzuschlafen. Die Versuchung in diesem Augenblick war genau der Moment, in dem mich meine Entschlossenheit fast verließ und ich nahe am Aufgeben war.
Diese Momente waren es, in denen ich am stärksten geprüft wurde, Momente, in denen ich Bequemlichkeit hätte wählen können. Es passierte mir nicht, wenn ich im Treppenhaus schlief, nicht, wenn ich gezwungenermaßen zu unmöglichen Zeiten aus der Wohnung meiner Freunde verschwinden musste, nicht einmal, wenn ich die ganze Nacht in der U-Bahn saß und dort zu schlafen versuchte. Es passierte dann, wenn ich in der Wohnung von Freunden herumlag und die Möglichkeit hatte weiterzuschlafen. Das war die schwierigste Situation für mich, weil ich, wenn ich nicht zur Tür hinausgezwungen wurde, einen anderen Grund finden musste, mich für die Schule zu motivieren, einen Grund, der aus meinem tiefsten Inneren kam.
Somit musste ich mich nicht nur zu Beginn ein einziges Mal entscheiden, zur Highschool zu gehen, sondern immer und immer wieder, in jedem Moment, wenn ich versucht war, nicht hinzugehen. Während dieser Augenblicke, die erfüllt waren von einer seltenen und wertvollen Ruhe, umgeben von weichen Kissen und Wärme, war ich mehr als sonst irgendwann in Versuchung. Ich musste alle Kraft zusammennehmen, um die Entscheidung zu treffen, aufzustehen und zur Schule zu gehen. In diesen Momenten war ich mein größtes Hindernis. Warme Decke oder zur Tür hinaus?
Diese Wahl zu treffen hatte, wie sich herausstellte, nichts mit Willensstärke zu tun. Ich bewunderte immer Leute, die aus »purem Willen« etwas tun, weil ich nie das Gefühl hatte, eine von ihnen zu sein. Wäre es eine reine Willensfrage, vermutete ich, dann hätte das ja schon damals gereicht, vor langer Zeit in der University Avenue. Aber so war es nicht gewesen, zumindest nicht für mich. Viel mehr als Willenstärke brauchte ich etwas, das mich
motivierte und inspirierte. Ich brauchte ein paar Dinge, an die ich in Momenten der Schwäche denken konnte.
Hilfreich dabei war ein Bild, das ich im Kopf behielt und das ich immer und immer wieder aufrief, sobald ich eine Entscheidung treffen musste. Ich stellte mir einen Läufer auf einer Rennbahn vor. Es war Sommer, und die Rennbahn lag in einem Rotorangeton da, unterteilt durch weiße Streifen, die die einzelnen Bahnen der Läufer markierten. Nur lief der Läufer, eine Frau, in meiner Vorstellung nicht neben anderen Läufern; sie lief allein, ohne Zuschauer. Und sie lief nicht auf einer leeren Bahn, sondern auf einer, auf der zahlreiche Hürden standen, die sie nehmen musste, wodurch sie unter der heißen Sonne ziemlich ins Schwitzen geriet. Ich benutzte diese Bild jedes Mal, wenn ich an die Dinge dachte, die mich frustrierten: die schweren Bücher, mein abartiger Schlafrhythmus, die Frage, wo ich schlafen und was ich essen würde. Dann rief ich mir meine Läuferin ins Gedächtnis, die sich diese Bahn entlangkämpfte und der Ziellinie entgegen lauter Hürden übersprang.
Hunger, eine Hürde. Zur Ruhe kommen und Schlaf zu finden, eine Hürde, Hausaufgaben, eine Hürde. Schloss ich die Augen, sah ich den Rücken der Läuferin vor mir, das Spiel ihrer zähen Muskeln, glänzend vor Schweiß, die Hürden vor sich nehmend, eine nach der anderen. Wenn ich morgens nicht aufstehen wollte, sah ich wieder bildlich eine Hürde vor mir, die ich überspringen musste. Auf diese Art und Weise wurden Hindernisse zu
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