Als der Tag begann
den Reißverschluss meiner Tasche – voller schmuddeliger Klamotten und dem Bündel mit Hundertdollarscheinen, die ich den Sommer über zusammengespart hatte – und stopfte Muffins, Bagels, Bananen und Orangen hinein. Dazu einen ganzen Laib Brot. Warum auch nicht? Diese Dinge durfte ich behalten.
Ich hätte sogar den Saft aus der Karaffe in meine Tasche gekippt, wenn ich gewusst hätte, wie.
12
Möglichkeit
Die zwei Jahre, die ich an der Humanities Prep verbrachte, entpuppten sich als ein städtisch-schulischer Überlebensstudienmarathon, der mir alles abverlangte, um ihn durchzustehen.
Ich lernte, dass es einen deutlichen Unterschied gibt zwischen Reden und Handeln, genauso wie es einen deutlichen Unterschied gibt zwischen einer Zielsetzung und der Umsetzung dieses Ziels unter realen Bedingungen. Ich wollte so schnell wie möglich alles aufholen, also setzte ich mir folgendes Ziel: Ich würde meinen Abschluss mit einem A-Durchschnitt, mit Bestnoten machen. Und ich würde ihn in zwei Jahren machen, während ich obdachlos war. Es war sehr inspirierend, diese Dinge in meinem Tagebuch nachzulesen. Aber dann musste ich meine Vorgabe tatsächlich in die Tat umsetzen, und das war eine ganz andere Geschichte.
Es ging gut los, mit dieser ersten hoffnungsvollen Woche in der Schule, in der ich zu so vielen Kursen ging wie nur möglich. Ich stapelte Aufgaben auf Aufgaben und Verbindlichkeiten auf noch mehr Verbindlichkeiten. Meine Lehrer an der Prep informierte ich nicht so richtig über mein Tun; ich zog einfach auf eigene Faust los, wählte meine Fächer à la carte aus und richtete sie auf meinem Teller an, wo immer sie gerade serviert wurden. Fünf Kurse waren vorgeschrieben – ich belegte sie. Dann gab es noch einen
zusätzlichen Mathekurs frühmorgens für diejenigen, die den Rückstand ihrer Punkte in Mathe aufholen mussten, also belegte ich den auch. Und wie ich den im Sekretariat ausliegenden Flyern entnehmen konnte, bot die nahe gelegene Washington Irving High School zweimal in der Woche Abendkurse an – auch dort ging ich hin. Dann war da noch die Seward Park High School an der Lower East Side, die samstags einen Geschichtskurs für weitere Punkte anbot. Ich schrieb mich ein. Ich fand heraus, dass ich die Lehrer persönlich ansprechen konnte, um unabhängig vom Lehrplan stundenweise Unterricht zu bekommen, also machte ich das auch. Ich musste einfach eine Menge Stoff nachholen. Mein Ziel an der Prep lautete, das Programm von einem Jahr Highschool innerhalb eines Semesters durchzunehmen, und genau damit begann ich ab jenem September.
Angefeuert wurde ich durch eine Frage, die mir immer wieder im Kopf herumschwirrte: Konnte ich mein Leben wirklich ändern? Ich hatte so viele Tage, Wochen, Monate und Jahre damit verbracht, darüber nachzudenken, was ich aus meinem Leben machen würde. Jetzt wollte ich es genau wissen: Wenn ich mich zu einem Ziel bekannte und jeden Tag hart darauf hinarbeitete, konnte ich so mein Leben ändern?
Während der ersten paar Wochen schien es besonders gut möglich, damals, als die Lehrer noch immer mit den Einführungen in ihre Kursen beschäftigt waren und uns Hausaufgaben aufgaben, die in weiter Ferne erledigt werden mussten. Vergnügt schrieb ich alles mit, kam pünktlich zum Unterricht, manchmal sogar zu früh, und nahm jede Aufgabe glücklich an. Die Anleitungen für die Hausaufgaben sammelte ich frohgelaunt in kleinen Stapeln, die in meinem Rucksack immer dicker wurden. Zuerst war das ganz prima. Aber schon bald tauchten die ersten Abgabetermine am Horizont auf, und Berichte und Referate waren tatsächlich fällig. Ab da wurde meine optimistische Grundhaltung der ersten paar Wochen abgelöst von Angstgefühlen und einer wachsenden Unsicherheit, was es hieß, das Ganze wirklich auf die Reihe zu
kriegen. Zugegeben, an mein Ziel zu denken oder es laut auszusprechen war etwas ganz anderes, als es tatsächlich im Alltag zu realisieren.
Die Highschool zu bewältigen und gleichzeitig obdachlos zu sein, hieß, Details zu berücksichtigen, die mir gar nicht in den Sinn gekommen waren, bis ich tatsächlich mit der Situation konfrontiert war. Zum einen – wer hätte geahnt, dass Schulbücher so schwer sind? Das allein reichte schon, aber wenn ich diese schweren Dinger mit mir herumschleppen musste, während ich mich ohne jegliche Vorhersehbarkeit in unterschiedlichen Lebensumständen orientierte, wo ich in einer bestimmten Nacht Unterschlupf finden würde, und dazu noch versuchte,
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